Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
(und Umi hob die Flügelspitzen an den Kopf). Sie wussten, was das bedeutete: Mitternacht! Das Feuerwerk würde jeden Augenblick –
Da ging es auch schon los. Farben und Feuer zerrissen die Dunkelheit. Grüne, rote, weiße und blaue Lichter flammten auf; gleißend hell und atemberaubend zerstoben sie zu Schwärmen von Kometen und neuen, unbekannten Sternbildern. Schlangen roter Feuerbälle brachen in den Himmel auf, Bäume aus Flammen erblühten, um gleich darauf wieder zu verglühen. Einen Moment lang war Kriss von dem Schauspiel hypnotisiert. Es war, als stünden sie und Lian im All, während um sie herum fremde Galaxien geboren wurden und starben und dabei ihre Schatten tanzen ließen.
Lian nestelte bereits an seiner Gürteltasche und zog ein Klappmesser hervor. Er ging vor einer Scheibe an der Basis der Kuppel in die Hocke und machte sich mit der Spitze der Klinge an der Bleifassung des Glases zu schaffen.
Währenddessen kramte Kriss nach der Phiole in ihrer eigenen Tasche. Als sie den Deckel abgeschraubt hatte, stach ihr ein betäubend scharfer Gestank in die Nase. »Also, Umi«, rief sie dem Vogel über den Weltuntergangslärm des Feuerwerks zu, bemüht, nichts von den stechenden Dämpfen einzuatmen. »Du weißt, was zu tun ist!«
Umi trällerte bestätigend. Kriss hielt ihm die Phiole hin und er tunkte die Spitze seines Schnabels in das Gift.
Es stammte aus der Krankenstube der Windrose und wurde normalerweise in größeren Mengen dazu benutzt, tödlich verletzten Matrosen lange Qualen zu ersparen. In kleineren Dosen sorgte es für rasche Bewusstlosigkeit. Kriss war nicht wohl dabei, das Zeug zu benutzen, jedoch wohler, als die Aussicht, den Wachen des Museums im Kampf gegenüber zu treten.
»Ich hab’s!«, rief Lian auch schon. Er hatte die Bleifassung oben und zu beiden Seiten nach außen gebogen. Nun schob er die Messerspitze unter die Oberkante des Glases und hebelte es in seine Richtung.
Kriss half ihm, die Scheibe aufzufangen. Das Loch in der Kuppel war groß genug, um mühelos hindurch zu steigen. Gerade hatten sie das Glas zur Seite geschafft, da sahen sie unten im Saal eine Tür aufgehen! Eine Wache betrat den Raum, schaute sich um – und zu ihnen herauf!
Kriss erstarrte, als sie den Warnruf des Mannes hörte, vom Feuerwerk nur halb verschluckt. Etwas zischte an ihrem Ohr vorbei, durch das Loch in der Kuppel. Umi flitzte auf den Wachmann zu, der bereits seinen Säbel gezückt hatte, doch zu langsam. Der Vogel pickte ihm im Vorbeiflug in die Kehle. Kriss sah, wie der Mann sich an den Hals fasste und das Gesicht vor Schmerz verzog.
Selbst als er zu Boden ging, wagte sie es immer noch nicht auszuatmen. Hatte jemand den Ruf gehört? Oder war ihre Deckung durch das Feuerwerk laut genug gewesen?
Doch unten im Saal rührte sich nichts. Umi, halb verborgen von den Schatten dort, schlug mit den Flügeln. Die Luft war rein!
»Weiter!« Lian schnallte die Rolle mit Geisterseide von seinem Gürtel und band ihr Ende um einen nahen Fahnenmast. Er ging dabei so ruhig vor, so methodisch, dass Kriss sich fragen musste, wie oft er schon in anderer Leute Häuser eingebrochen war. Gleichzeitig beruhigte sie der Gedanke, einen professionellen Dieb an ihrer Seite zu haben. Es war gut, wenn wenigstens einer von ihnen die Nerven behielt.
Lian warf das Seil – oder besser: die Schnur – in den Saal. Geisterseide war bemerkenswert stark, aber auch sehr dünn und sehr glatt. Sie beide hatten dicke Handschuhe mit aufgerauten Greifflächen angelegt, die verhinderten, dass sie beim Klettern abrutschten oder sich die Handflächen aufschnitten.
Bereit? , fragte Lians Blick.
Kriss nickte, auch wenn es nicht stimmte. Sie sah zu, wie er den Abstieg begann, zwei Klafter hinab, bis auf den Marmorboden des Saals. Kriss folgte ihm mit rasendem Herzen; das Seil war so dünn, dass sie befürchtete, es könnte unter ihren Pfunden reißen, doch die Geisterseide hielt, was ihre Hersteller versprachen.
Unten angekommen ließ das wechselhafte Licht jenseits der Kuppel mit Laken verdeckte Vitrinen erahnen. Holzgerüste ruhten an den Wänden und weißverkrustete Eimer standen in den Ecken. Kriss roch den scharfen Duft von Farbe. Doch nirgends gab es eine Spur von einer Statue.
Vorhin hatten sie einige Zeit dafür aufgewandt, sich das Museum von außen genau anzusehen, ohne jedoch eine Ahnung von seinem inneren Aufbau zu bekommen. Sicher war nur, dass sie die Abteilung für die prä-kiradianische Epoche finden mussten, in
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