Der Schatz des Blutes
haben.
Träume konnten etwas sehr Verwirrendes sein, und allmählich wurde er frustriert.
Langsam und vorsichtig öffnete er die Augen und richtete sich auf, um die Frau anzusehen, doch sie war verschwunden – wenn es sie denn überhaupt gegeben hatte –, und er stand allein in einer Gasse mit hohen, nackten Wänden. In der Nähe kreuzte eine Straße, und von dort kamen auch die Geräusche. So viel nahm er wahr, bevor plötzlich der Boden auf ihn zuraste und er das Bewusstsein verlor.
»BRUDER STEPHEN!«
Wieder rief die Stimme wie aus großer Ferne seinen Namen, doch sie klang beharrlich, und er konnte sie nicht weiter ignorieren, so sehr er auch den Kopf schüttelte und sich abzuwenden versuchte, um weiterzuschlafen.
»Bruder Stephen! Master St. Clair, wacht auf!«
Er öffnete blinzelnd die Augen und sah jemanden über sich stehen. Schlagartig übernahm seine Ausbildung die Kontrolle, und er rollte sich zur Seite, warf sich heftig nach hinten und griff nach seinem Dolch. Doch es war kein Dolch in seinem Gürtel. Er trug gar keinen Gürtel. Und seine blitzschnelle Rollbewegung war das hilflose Wälzen eines Betrunkenen. Er runzelte die Stirn und spähte zu der Gestalt über ihm auf.
»Bruder Stephen? Ihr seid es doch, oder? Bruder Stephen von den Armen Soldatenkameraden Jesu Christi?«
»Wer seid Ihr?«
Die Frage war ein kaum verständliches Gemurmel, doch die Antwort kam prompt.
»Ihr seid es wirklich! Gott sei gepriesen, wir dachten alle, Ihr wärt tot.«
St. Clair versuchte mit aller Kraft, sich zusammenzureißen, und schüttelte heftig den Kopf. Der andere Mann half ihm, sich aufzusetzen, indem er ihm den Arm um die Schultern legte. Stephen hatte nicht einmal die Kraft, ihn von sich zu stoßen, und so blieb er erst einmal an ihn gelehnt sitzen und holte tief mehrmals Luft, um die aufsteigende Panik zu bekämpfen.
Dann richtete er sich noch weiter auf und blickte an sich hinunter. Seine Handgelenke trugen Armbänder aus roter, aufgescheuerter Haut, und er war mit einem groben, braunen, knielangen Gewand bekleidet, das er noch nie gesehen hatte.
Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund war wie zugeklebt. Er spuckte auf den Boden und versuchte es erneut, und das Krächzen, das dann herauskam, schien alles zu sein, was ihm von seiner Stimme geblieben war.
»Wo bin ich … und wer seid Ihr? Sagt mir das als Erstes. Wer seid Ihr?«
»Giacomo Versace, Bruder Stephen. Ich bin einer Eurer Sergeanten, aber ich bin neu. Ihr kennt mich noch nicht.«
St. Clair versuchte angestrengt, Speichel zu sammeln, um sprechen zu können.
»Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich müsste Euch erkennen und könnte es nicht. Wo bin ich, und wie bin ich hierhergekommen?«
»Wir sind in einer Gasse in der Nähe des Souks, aber ich habe keine Ahnung, wie Ihr hierhergeraten seid. Ich bin zufällig vorbeigekommen und habe Euch hier liegen gesehen. Ich dachte, ihr wärt tot oder betrunken, und ich wäre an Euch vorübergegangen, wenn mir Eure weiße Haut nicht aufgefallen wäre. Dank sei Gott, dass ich angehalten habe, denn ich habe ein Wunder gesehen: Lazarus ist aus dem Grab gestiegen.«
Stephen gab sich Mühe, die Worte seines Gegenübers zu verstehen. Er legte den Kopf zur Seite.
»Lazarus, sagt Ihr? Meint Ihr mich damit?«
»Aye, gewiss. Wir haben vor über einem Monat das Requiem für Eure Seele gesprochen, weil wir dachten, Ihr wärt überfallen und ermordet worden, denn Ihr wart spurlos verschwunden, und unsere Suche war fruchtlos geblieben. Wo seid Ihr nur gewesen?«
»Was meint Ihr damit, wo bin ich gewesen? Ich bin doch seit meiner Rückkehr von der Patrouille hier in Jerusalem –« Er zögerte. »Wann war das, gestern? Ja, so muss es gewesen sein. Wir haben bei einem Scharmützel mit den Sarazenen zwei Männer worden – den Engländer, Osbert von York, und Grimwald von Brüssel.«
»Das ist über einen Monat her, Bruder Stephen. Seitdem seid Ihr vermisst worden, und wir haben Euch für tot gehalten.«
Stephen saß lange still, dann streckte er die Hand aus.
»Bitte helft mir auf. Am besten bringt Ihr mich, glaube ich, unverzüglich zu meinen Brüdern. Mir ist furchtbar übel, und mein Verstand arbeitet nicht richtig. Bringt mich wieder zum Tempelberg.«
ALS ER DAS NÄCHSTE MAL ZU SICH KAM, wusste St. Clair, wo er war, und er konnte sich daran erinnern, zu Bett gegangen zu sein. Was er nicht wusste, war, wie viel Zeit seitdem vergangen war – wie man ihm später sagte, hatte er zwei Tage geschlafen,
Weitere Kostenlose Bücher