Der Schimmer des Ledger Kale
sie.
17
»Ah, Ledger! Warst du spazieren?«, fragte Opa, als ich vorbeijoggte.
Ich nickte grinsend. Mir tropfte Wasser aus den Haaren, denn ich war noch kurz in den Fluss gesprungen.
Auf dem Schrottplatz war ich geblieben, bis die Schatten am Nachmittag immer länger wurden. Ich hatte Winona zugehört, während sie über Motorräder fachsimpelte und beim Sortieren der Einzelteile ein angestaubtes Knucklehead-Handbuch durchblätterte. Als ich wieder auf der Ranch ankam, war ich so glücklich wie seit Wochen nicht mehr.
Ich vergaß, dass die Knucklehead ohne mein Zutun gar nicht wieder neu zusammengebaut werden müsste, und summte zufrieden vor mich hin. Die Vorstellung, dass ich zur Abwechslung mal etwas reparierte , gefiel mir. Sie gab mir sogar das Selbstvertrauen, die Stufen zum Haupthaus hinaufzusteigen, als ich Samson leibhaftig neben Opa Bomba zu sehen glaubte. Vielleicht konnte ich ihm ja von Winona und dem Schrottplatz erzählen.
Doch als ich oben ankam, war der Stuhl neben Opa leer und die Fliegengittertür schwang gerade zu. Das dämpfte meine gute Laune; ich wünschte mir, Samson wäre zur Abwechslung mal dageblieben. Wenn er für Opa sichtbar sein konnte, warum vertraute er mir dann nicht genug, um auch mir zu erscheinen? Hatte er irgendetwas an sich, das er niemand anderem zeigen wollte?
»Wo sind denn die anderen alle, Opa?«, fragte ich und war überrascht, als Opa Bomba ohne Hilfe aus seinem Sessel aufstand. Seine Knochen knackten und knirschten so laut, dass die vor ihm liegende Bitsy aufwachte. Sie hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz.
»Dein Onkel sieht gerade nach den Bienenstöcken«, antwortete Opa und seine Stimme zitterte nur ganz wenig. »Und der Rest der Horde? Wer weiß das schon? Die Zwillinge sind nach dem Mittagessen mit Fedora über alle Berge – ich nehme an, sie sind wieder auf der Jagd. Sie haben gesagt, sie hoffen heute auf mehr Glück.« Fedora lief in letzter Zeit immerzu hinter Marisol und Mesquite her, aber die Zwillinge schienen ganz froh über diese treue Bewunderin zu sein.
»Auf der Jagd?«, fragte ich. Plötzlich wurde mir klar, dass ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, was Marisol und Mesquite eigentlich so trieben, wenn sie mit mir und ihrer alibimäßigen Karma-Aufbesserung fertig waren. Ich fragte mich, in was Marisol und Mesquite meine Schwester da wohl mit hineinzogen. Jagd? Ich konnte mir genau vorstellen, wie Fedora mit ihrem Helm im Gras kauerte und den Zwillingen Vorträge über die Gefahren im Umgang mit Pfeil und Bogen hielt oder über die richtige und falsche Art, eine Falle aufzustellen.
»Was jagen die Vegetarierinnen denn so?«, fragte ich. »Wildtofu?«
»Ich vermute, deine Cousinen haben eine andere Beute im Sinn«, erwiderte Opa kichernd.
»Beute?«
Opa lächelte nur und streckte sich erneut. »Rocket versucht einen Drahtzaun aufzutreiben, den er um seinen Garten ziehen kann, um Kaninchen und andere Eindringlinge fernzuhalten«, fuhr er fort. »Und Gypsy macht für deine Freundin aus der Stadt eine Schmetterlingsführung.«
»Meine Freundin aus der Stadt?«, wiederholte ich. »Welche Freundin aus der Stadt?«
Opa wedelte mit der Hand in Richtung Insektenhaus und gab sich alle Mühe, mir zuzuzwinkern. »Ein hübsches Mädchen kam vorhin hier vorbei und fragte nach dir, Ledge. An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.« Er kratzte sich am Kopf. »Aber ich erinnere mich, dass sie zwei hatte.«
»Zwei?«, wiederholte ich, obwohl der Sessel neben Opa bereits zu beben begann.
»Zwei Vornamen«, stellte Opa klar, ohne den Sessel auch nur eines Blickes zu würdigen. »Betty Jo? … Nein, das war’s nicht. Mary Ann?«
Ich schloss die Augen und flüsterte: »Sarah Jane?«
»Ja, genau!« Opa schlug sich auf den Schenkel und schnippte mit den Fingern. »Aber weil du nicht da warst, wollte Gypsy sich bis zu deiner Rückkehr um deine Freundin kümmern. Du weißt ja, sie hat es gerade sehr mit den Schmetterlingen. Die liebt sie über alles.«
»Nein.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein … nein … nein!«
»Ledger?«
»Ich muss los, Opa!« Ich musste Gypsy aus den Fängen von Sarah Jane befreien. Gypsy war zu nett. Sie war so süß wie wunderbar weicher Weingummi. Sarah Jane würde sie einfach überfahren, als steuerte sie einen Abrissbagger ihres Vaters in die Flanke des Zuckerhuts.
»Sie ist übrigens nicht meine Freundin!«, rief ich, während ich von der Veranda sprang; ich hielt mich nicht lange mit
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