Der Schimmer des Ledger Kale
ich nicht ein Mal mit ihm gesprochen. Gestern haben sie angerufen, aber …« Ich brach ab, da ich Winona schlecht erzählen konnte, dass ich beim ersten Versuch, mit ihnen zu telefonieren, das Handy meines Onkels zerlegt hatte, noch bevor Dad auch nur Hallo sagen konnte. Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Ich werde nie das Rennen meines Lebens laufen, so wie Dad es gemacht hat, und er weiß es.«
»Das klingt so, als wären das die Träume deines Vaters, Ledge«, sagte Winona, die seit zehn Minuten an derselben Speiche herumfummelte. »Was sind denn deine?«
»Was sind meine was?«
»Deine Träume, du Dussel!« Sie warf lachend die Speiche nach mir. »Du wirst ja wohl eigene Träume haben!«
»Da hab ich noch nie drüber nachgedacht.« Ich fing die Speiche auf, zuckte erneut die Schultern und hoffte, Winona hatte nicht mitbekommen, dass sich der dünne Metallstab in meiner Hand eingerollt hatte wie ein Korkenzieher. In schneller Abfolge rasten Bilder durch meinen Kopf: Tante Jennys Gemälde von dem Schiff auf wilden Wellen, der berühmt-berüchtigte Vorfall mit den schmelzenden Uhren im Kunstunterricht, das verdrehte und verbogene Windrad … Gypsys geheimnisvolles Lächeln, nachdem sie gesagt hatte, ich würde Künstler werden.
Obwohl ich jeden Tag zum Schrottplatz gegangen war, um Winona zu treffen, hatte ich immer noch keinen Fuß in das vor mir liegende Meer aus Stahl gesetzt. »Du kannst dich hier auch gern umsehen, Ledge«, hatte sie mehr als einmal zu mir gesagt. »Hier gibt es noch viel mehr zu entdecken. Alle möglichen Schätze.«
»Schätze? Das ist doch ein Schrottplatz«, hatte ich abfällig geantwortet und mir vorgestellt, dass ich dem Schrottplatz entsteigen würde wie Eva Mae damals den Fluten. Nur dass ich, anstatt von Kopf bis Fuß mit Gold bedeckt zu sein, wie ein riesiger Transformer aussehen würde oder wie ein irrer Ritter in einer verrosteten Rüstung. Ich würde eine erschrockene und erschreckende menschliche Skulptur abgeben – ein Kunstwerk, keinen Künstler.
Während Winona erneut überlegte, wie sie mit den Radspeichen weitermachen sollte, schüttelte ich all die Bilder wieder aus meinem Kopf. Mein Blick fiel auf ein großes, mysteriöses Etwas, das in der Mitte der Werkstatt unter einer Plane verborgen war, und ich fragte mich, was das sein konnte. Das einzige sichtbare Detail war ein gebogenes Metallstück, das unter der Abdeckung hervorlugte wie der Fuß eines riesigen Ungeheuers. An was auch immer Winona arbeitete, wenn ich nicht da war, sie wollte es mir nicht zeigen, und ich wäre dafür gestorben, einen verstohlenen Blick darauf werfen zu können.
»Sarah Jane würde nachsehen«, sagte ich leise.
»Sarah Jane würde was?« Winona blinzelte mich an und ließ krachend einen Schraubenschlüssel fallen.
»Äh … ach, nichts. Ich hab nur mit mir selbst geredet.«
»Über Sarah Jane Cabot?«
»Äh … schätze schon. Kennst du sie?«
»Nicht persönlich, nein. Aber ich kenne ihre Arbeit – und die ihres Vaters. Oder hast du das Zwangsvollstreckungsschild draußen nicht gesehen?«
»Aber Sarah Jane hat doch mit der Zwangsvollstreckung nichts zu tun. Sie ist doch noch ein Kind«, erwiderte ich, ohne genau zu wissen, warum ich sie verteidigte.
»Sarah Jane hat in ihrer Zeitung über Pops geschrieben, kurz bevor ihr raffgieriger Vater beschlossen hat, uns den Kredit zu kündigen«, sagte Winona. »Gus war so stolz, in der Zeitung zu stehen, ganz egal, in was für einer, dass er sie hier in der Werkstatt aufgehängt hat.« Sie verdrehte die Augen. »Ich hab sie wieder abgenommen. Jedes Mal, wenn ich die Überschrift las: Mich laust der Affe! Gus Neary ehemaliger Freibeuter! , hab ich mir Pops als Seeräuber in Rente vorgestellt – Holzbein, Papagei, Skorbut und der ganze Krempel. Die Augenklappe hatte er ja schon, und die hatte Sarah Jane wohl überhaupt erst auf diese Idee gebracht. Aber derjenige, der hier andere Leute überfällt und ausplündert, ist ja wohl eher Sarah Janes Vater und nicht meiner.« Winona stockte unvermittelt und blinzelte mich erneut an. »Woher kennst du sie eigentlich, Ledge?«, fragte sie plötzlich misstrauisch. »Ist Sarah Jane …«
»Sie ist nicht meine Freundin! Sie ist nicht, nicht, nicht meine Freundin.« Ich hatte sie unterbrochen, doch Winona prustete nur laut los.
»Okay! Alles klar. Aber ich wollte eigentlich nur fragen, ob sie eine Freundin von dir ist, Ledge.«
An diesem Nachmittag kehrte ich mit mehr Schmierfett
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