Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
man ihn nicht spüren konnte?
»Heh, Mann, was machen Sie da oben?«
Niels sah nach unten auf den Bahnsteig. War das der Glatzkopf mit dem Motherfucker-Bart, der zu ihm hochgerufen hatte? Warum wollten Männer heutzutage so hart aussehen? Er war bestimmt auch nichts anderes als Architekt, Designer oder Kindergärtner. Trotzdem waren seine Arme über und über dekoriert mit schwarzen Zeichen aus Asien, die niemand decodieren konnte, wie ein Krieger aus einer fernen Vorzeit. Vielleicht bedeuteten diese Zeichen Liebe und Frieden, vom Aussehen her versprachen sie eher Tod und Unglück. Er machte wieder seinen Mund auf und rief etwas zu Niels hoch. Gesichter wandten sich ihm zu. Rot und von der dänischen Sommersonne gequält. Sie blinzelten, hielten sich die Hände über die Augen und sahen zu ihm hoch. Als wäre er selbst die Sonne, kaum mit den Blicken zu fassen.
Ich bin die Sonne .
Ich strahle sie an. Wie Dicte gestrahlt hatte. Auf der Bühne ein Strahl über das Publikum und eine Explosion, als sie sprang, ihr letzter Satz – ein Spatium des Glaubens, der Zwischenraum, der dieses Leben von dem nächsten trennte. Niels bemerkte wieder die Schienen unter sich. Wann hatte er eigentlich die Schuhe ausgezogen? Der schwarze Stahl des Turms brannte unter seinen Fußsohlen. Das Fegefeuer, dachte er. Das Purgatorium, das Reich zwischen Tod und Jüngstem Gericht – dort musste Dicte jetzt sein. Und auch er sollte jetzt dort sein, das hatte er ihr versprochen.
»Kommen Sie doch da runter.«
Die Stimme kam von einer anderen Stelle aus der lebendigen Menge unten auf dem Bahnsteig. Niels sagte irgendetwas über Polizei, er war sich aber nicht sicher, dass jemand ihn verstanden hatte. Irgendwo hörte er Sirenen. Sie riefen ihn. War es an der Zeit? Es gab nichts und niemanden, der ihn zurückhielt. Weder Kathrine noch Hannah noch irgendjemand sonst. Gut ging es ihm wirklich nicht. Und er wäre schnell vergessen: Kathrine war in Südafrika, sie würde die Nachricht von seinem Tod erhalten, wenn sie im Büro an ihrem Schreibtisch mit Blick über den Indischen Ozean saß. Sie würde weinen, bestimmt, das würde sie. Und ein paar Tage an ihn denken. Danach würde sie auf eine Safari gehen, den Tod als natürlich erleben und erneut erkennen, dass man Seite an Seite mit ihm lebte, wie sie es immer über Afrika sagte. Und vielleicht würde sie sich innerlich glücklich schätzen, sich jetzt nicht um alles kümmern zu müssen. Die Beerdigung. Den Leichenschmaus. All das war jetzt nicht mehr ihr Problem.
»Heh, verdammt, was machen Sie da?« und: »Kommen Sie runter, Sie Narr!«, schallte es gleichzeitig zu ihm nach oben. Die Bürger gerieten in Wallung. Einige kamen die Treppe hoch. Die Sirenen riefen ihn. Er sollte springen. Nur über einen Punkt musste er sich noch klar werden. Hannah – wie würde Hannah reagieren? Sie war den Verlust gewohnt und würde sich noch mehr zurückziehen, und das wäre nicht gut. Würde sie ihm nach springen? Nein, wenn sie nicht gesprungen war, nachdem ihr Sohn sich das Leben genommen hatte, würde sie auch jetzt nicht springen. Und sie würde sich an Niels erinnern, wie ein Baum seine Jahre zählte, mühsam Ring für Ring. Hannah würde die Jahre zählen von seinem Tod bis zu dem ihren.
»Kommen Sie doch runter!«
Niels ignorierte die Stimmen, die Rufe. Er blickte über den Hafen. Von hier aus war er nicht mehr als ein schmaler Streifen Wasser zwischen den Gebäuden – wie ein Fluss. Acheron. Der Fluss, den man auf dem Weg ins Totenreich überqueren musste. Das Reich, auf das Dicte nicht warten konnte. Niels war sich nicht sicher, ob dort auch ein Fluss wäre, wenn er sprang, ob er sich überhaupt ein Reich auf der anderen Seite wünschte. Vielleicht hoffte er nur auf Frieden. Den Frieden des ewigen Schlafs. Er stellte sich so hin, dass seine Füße über den Rand ragten.
»Dann springe ich auch«, flüsterte er.
»Hier ist die Polizei Kopenhagen«, tönte es verzerrt hinter ihm aus einem Lautsprecher. Irgendein Idiot stand unten auf der Straße und redete durch ein Megafon mit ihm. Niels trat ein paar Schritte zurück und sah nach unten. Tatsächlich standen da zwei junge Beamte, die noch davon überzeugt zu sein schienen, dass man nur hart genug reden, drohen und losschlagen musste, um Ruhe und Ordnung zu schaffen und die Leute dazu zu bewegen, ihren Anweisungen zu folgen.
»Ihr bleibt, wo ihr seid!«, hörte Niels sich selbst rufen. »Ich will nicht, dass sich jemand nähert. Kommt ihr mir
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