Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
sie ihre Augen plötzlich auf ihn gerichtet, genau auf die Linse des Fernglases, sodass er sich entdeckt gewähnt hatte. Aber ein entrückter Blick sah nie das, was direkt vor ihm war.
»Sie müssen sich einen anderen Ort suchen, um Vögel zu beobachten.«
Ein städtischer Ordnungshüter trat vor sein Fernglas, und für einen Augenblick wurde alles blauschwarz.
»Sehen Sie das Schild da? Hier ist Parkverbot.«
Bergmann ließ den Motor an.
»Zwanzig Meter weiter unten. Aber Sie müssen ein Parkticket ziehen«, sagte der Mann in einem freundlicheren Ton.
Bergmann parkte den gemieteten Lieferwagen um. Im Laderaum stand ein riesiger Pappkarton, in dem einmal ein höhenverstellbarer Tisch gewesen war. Ging es nach ihm, sollte Hannah bald in diesem Karton liegen. Sie war vom Balkon verschwunden, als er am Automaten das Ticket zog. Aber er hatte nicht anders handeln können. Irgendwo in der Ferne waren Sirenen zu hören. Es durfte keine Beweise geben, dass er sich hier aufgehalten hatte. Keine Strafzettel, die sein Auto für immer in Verbindung mit diesem Ort und diesem Zeitpunkt brachten. Die Sirenen näherten sich. Das Schwierige würde sein, sie ins Auto zu bekommen. Aber irgendwie musste er das schaffen. Genau das war bei Dicte und Peter schiefgegangen. Die Umgebung hatte ihm nicht genügend Zeit gelassen. Sie könnten heute beide noch leben, redete er sich ein und spürte eine gewisse Verärgerung. Dicte. Warum hatte sie es nicht einfach zu Ende bringen können? Er hatte ihr nichts angetan, was sie nicht selbst schon mehrfach mit sich selbst gemacht hatte. Während ihrer eigenen Experimente mit dem Tod. Und da bei war er noch besser qualifiziert. »Nur Anwohner«, stand auf dem Schild neben der Einfahrt zur Tiefgarage des Wohnkomplexes. Sollte er dort unten parken? Dann würden ihn nicht so viele Leute mit dem großen Karton hantieren sehen. Ein Auto fuhr heraus. Die Schranke blieb ziemlich lange oben. Das war zu schaffen. Er musste dafür nur auf der falschen Spur nach unten fahren.
Hatte er sie erst in sicherer Verwahrung, wollte er sie in sein Versteck bringen. Den sichersten Ort im ganzen Königreich. Ein Ort, an den niemand sonst kam und an dem es keinen Zeit druck gab.
Er öffnete seinen Arztkoffer. Nahm eine Spritze und bereitete sie vor. Er perforierte die dünne Gummimembran mit der Kanüle und zog die Flüssigkeit in die Spritze. Ketamin. Ein Pferdebetäubungsmittel. War während des Vietnamkriegs häufig auch am Menschen erprobt worden. Bei Soldaten, die ihre Beine verloren hatten und schlagartig ihre Schmerzen loswerden mussten, während sie aus dieser Welt schieden. Menschen gingen an ihm vorbei, sodass er die Spritze nicht aus der Tasche nehmen konnte und deshalb die ersten Tropfen in die Tasche spritzte, um sicherzugehen, dass keine Luft in der Spritze war. Falls er eine Ader oder Vene traf und nicht den Muskel. Dann setzte er einen Stopfen auf die Kanüle, schob sie in die Hosentasche und machte die Tasche zu. Ein Wagen fuhr aus der Tiefgarage. Er legte den ersten Gang ein. Fuhr schnell auf die Rampe zu, gab Gas und bog nach links ab. Kaum war er unten, schloss die Schranke sich.
10.
Bahnhof Dybbølsbrücke, 11.20 Uhr
Niels war einer Spur gefolgt – dem Weg, den Dicte ihm abgesteckt hatte. Und dann hatte sie von hier aus ihren letzten Schritt getan, einen Schritt in den Tod, an den sie so hohe Erwartungen hatte. Von genau diesem Turm.
Er erinnerte sich kaum daran, wie er hierhergekommen war. Er wollte den Fall abschließen. Den Tatort ein letztes Mal besuchen. Wie man es tun sollte. Sehen, was Dicte gesehen hatte. Verstehen, was sie in den Abgrund getrieben hatte. Deshalb stand er jetzt hier. Er war aus der Bibliothek gegangen und war dem Wasser gefolgt. In Gedanken war er dabei bei Dicte gewesen, die tatsächlich der Meinung gewesen war, man könne beim Tod ein und aus gehen wie in einem Computerspiel. Am meisten aber hatte er über das nachgedacht, was sie zuletzt gesagt hatte. Es war fantastisch . Das waren ihre Worte gewesen. Und das konnte niemand bezweifeln, nicht bei dem Blick, den sie bei diesen Worten in die Kamera geworfen hatte.
Niels sah nach unten auf die Schienen, die vom Hauptbahnhof aus in den Rest des Landes führten, und dachte über seine eigenen Erwartungen nach. Fantastisch. Etwas, was man hier nicht erleben konnte. Was war das? Frieden? Man sollte Frieden bekommen, so viel war sicher. Aber würde man diesen Frieden auch erleben? Und was war das Gute am Frieden, wenn
Weitere Kostenlose Bücher