Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
jetzt vor dem Eingang stand. Dann war sie weg.
Hatte sie ihn überhaupt gesehen? Nein, sicher nicht. Es war nicht um ihn gegangen. Er sah auf seine Uhr. Viertel vor zwölf. Er musste es am Abend noch einmal probieren. Und er musste einen Ort finden, an den er sie locken konnte. Dieses Haus hier taugte nicht. Zu viele Fenster. Zu hellhörig und transparent.
13.
Bahnhof Dybbølsbrücke, 11.45 Uhr
Niels blickte ein letztes Mal über die Menge. Er schaffte es einfach nicht, sich den Acheron vorzustellen. Er sah nur Menschen, die gierig schaudernd auf seinen baldigen Tod warteten. Was sie wohl dachten? Hoffentlich tut er es nicht? Oder: Hoffentlich springt er, damit ich in meinem langweiligen Leben endlich mal was erlebe?
Egal. Daran musste er jetzt nicht denken. Er musste überhaupt nicht mehr denken. Nie mehr. Keinen einzigen Gedan ken. Das war ja der Sinn der Sache: Er wollte weg, weg von seinen Gedanken.
»Bentzon? Was zum Henker machst du da oben?«
Niels drehte sich um. Leon starrte ihn verwundert an. Er war auf dem Weg nach oben und stand bereits auf der zweitletzten Sprosse der Leiter, über die Niels selbst vor ein paar Tagen zu Dicte geklettert war.
»Du machst den Reisenden Angst. Siehst du nicht, wie die Leute da unten rufen?«
»Lass mich in Ruhe, Leon«, flüsterte Niels, aber zu leise und ohne das wirklich zu meinen. Er war froh, dass Leon da war. Leon würde dafür sorgen, dass alles schnell geregelt wurde. Wie, war ihm egal. Aber es musste hier sein – hier an dem Ort, an dem Dicte gesprungen war.
»Weißt du was? Da rufen Leute bei mir an und sagen, dass da oben ein Verrückter steht, der springen will. Der brave Leon guckt sich die Überwachungsbilder an, und was sieht er? Den guten alten Bentzon. Mein erster Gedanke war, aber der springt doch nicht, oder? Du springst doch nicht wirklich, oder?«, wiederholte Leon. Niels antwortete nicht.
Leon trat einen Schritt näher.
»Bleib, wo du bist.«
»Halt deinen Mund, Niels, und komm endlich runter.«
»Ich komme gleich, lass mich noch zwei Minuten allein. Dann komme ich.«
Niels fing Leons Blick ein. Was anfangs noch reine Verwun derung gewesen war, war jetzt in etwas Professionelles umgeschlagen: Niels war ein Sicherheitsrisiko.
»Verdammt, Niels. Muss ich etwa Damsbo anrufen?«, fragte Leon und versuchte sich an einem Lächeln. »Du sagst doch selbst, dass der Mann vollkommen talentlos ist und noch den glücklichs ten Mann auf Erden dazu bringen könnte, in den Tod zu springen. Den kann ich doch nicht anrufen!«
Niels wich einen Schritt vor Leon zurück, der jetzt oben auf dem Turm angelangt war.
»Wenn ich jemanden anrufen kann, dann Bentzon. Nur er kann die Menschen davon abbringen, etwas Dummes zu tun. Das ist der Einzige, auf den ich vertraue«, sagte Leon, während er über Handzeichen mit seinen Leuten auf der Brücke und unten auf dem Bahnsteig kommunizierte. Niels kannte die Routine. Der Zugverkehr war angehalten worden. Feuerwehr und Rettungs wagen waren unterwegs, aber Leon hatte den strengen Befehl gegeben, ohne Sirenen zu fahren. Alles, was auch nur im Geringsten an Tod und Unglück erinnerte, musste weggelassen werden. Ein oder zwei Beamte auf der Brücke versuchten, Angehörige zu erreichen. Die Psychiatrie wurde kontaktiert, und der Name des Betreffenden wurde im Einwohnermeldeamt nachgeschlagen: Niels Bentzon . Eventuell bekannte psychische Leiden wurden Leon per Funk mitgeteilt, ohne dass er eine Miene verzog. Die Zentrale hätte ihm mitteilen können, dass der Mann vor ihm ein psychopathischer Massenmörder war, ohne dass Leon auch nur mit der Wimper gezuckt oder seinen Blick von ihm genommen hätte.
»Was sagen sie dir, Leon?«
»Was sagt wer?«
»Die Zentrale. Was sagen sie über mich?«
Leon kam kaum merkbar einen Schritt näher. Kaum merk bar, war man nicht ein halbes Leben lang auf die Gespräche mit Geiselnehmern und Selbstmördern trainiert worden.
»Geh einen Schritt zurück, Leon.«
»Okay, okay, Niels. Was ist hier los? Sieh mich an. Du bist mein bester Unterhändler.«
»Ich habe gesagt, dass ich springe, wenn sie springt«, sagte Niels und sah nach unten auf die Schienen. Sie reflektierten das Licht und schienen mit ihren parallelen Spuren bis in die Unendlichkeit zu führen.
Einen Moment lang war es so still, dass Niels die Stimmen in Leons Ohrhörer wahrnahm.
»Was sagen sie dir, Leon?«
»Allen möglichen Scheiß. Dass wir alle Probleme haben, Niels.«
Leon sah ihn eindringlich an. Zögerte.
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