Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
schüttelte den Kopf. Auf dem Tisch lagen aufgeschlagene Fall akten. Fotokopien von Polizeiberichten. Bilder von Männern und wieder Männern. Alte Schulkameraden. Nachbarn und zufällige Passanten. Ein Bibliothekar. An Verdächtigen mangelte es in Berg manns deprimierendem Universum wirklich nicht.
»Casper?«
Niels hatte gar nicht mitbekommen, dass er seine Nummer gewählt hatte.
»Hast du ihn gefunden?«, fragte die junge Stimme.
»Nein. Nicht im Haus. Was hast du sonst noch für mich? Gibt es ein Sommerhaus? Einen Kleingarten? Hilf mir, Casper. Wo kann er sein?«
»Das Sommerhaus ist verkauft.«
»Verdammt!«, rief Niels laut und trat die Tür zum Garten mit einem Knall auf. Spinnweben legten sich auf sein Gesicht, als er über die Treppe nach oben lief und schließlich wieder in dem hohen, trockenen Gras des Gartens stand. »Gib mir etwas, Casper!«
»Er ist Bereitschaftsarzt.«
»Das weiß ich, an was denkst du?«
»Nichts. Was ist mit seiner Tochter?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Ich bin mir nicht sicher, vielleicht …«, sagte Casper, aber er beendete den Satz nicht.
»Wo ist sie?«
Finger auf der Tastatur. Verzweifelte Geräusche.
»Casper?«
»Warte. Das ist ein anderes Register. Hier: Bispebjerg-Klinik, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie.«
Niels blieb am Auto stehen.
»Sie ist in der Klinik?«
»Ja, soweit ich das sehen kann, ist sie seit dem Tod ihrer Mutter immer wieder eingewiesen worden.«
Niels dachte nach. Wie weit war es bis in die Klinik? Die Zeit lief ihm davon. Es kam ihm vor, als wäre er ein Sandkorn, das hilflos im Stundenglas in die dunkle Tiefe gerissen wurde.
18.
Nördlich von Kopenhagen, 22.47 Uhr
Auf der Flucht durch eine entschwundene Zeit. So sah die Welt aus, die Hannah umgab. So war die Welt, die Hannah umgab. Die Binde vor den Augen und das Tape über dem Mund hatte sie sich heruntergerissen, und sie sah, dass sie sich an Bord einer Zeitmaschine befand und 4 0 – 50 Jahre in die Vergangenheit katapultiert worden war. Graue und braune Farben in endlosen labyrinthischen Gängen. Möbel aus den 60er- und 70er-Jahren. Arne Jacobsen. Verner Panton. An der Wand hing ein Telefon, ein monströser Museumsgegenstand mit einer riesigen Wählscheibe. Sie überlegte, ob sie anhalten und anrufen sollte, wagte es aber nicht. Er würde sie einholen. Sie musste weg, sich verstecken, sich einen Plan zurechtlegen und fliehen. »Außenminister«, stand auf einem Schild an einer Tür. »Justizminister«, auf einem anderen. Sie warf einen flüchtigen Blick in einen der Räume und erkannte ein einfaches Bett und ein kleines Büro im perfekten 60er-Jahre-Design. Tisch, Stuhl, Designerlampe.
Der Kalte Krieg .
Die Worte jagten durch ihren Kopf. Und dann noch mehr: Ich befinde mich mitten im Kalten Krieg. Sowjetunion. DDR . Eiserner Vorhang. Stasi. Atomares Wettrüsten. Die Angst vor dem Untergang der Erde. Sie wurden wie in einer Zentrifuge durch ihren Kopf geschleudert, setzten sich aber nicht wirklich fest, dafür war ihr Hirn zu chaotisch, ihr Körper zu angsterfüllt. Aber so musste es sein. Sie musste sich in einem unterirdischen Bunker aus der Zeit des Kalten Krieges befinden. Aber gab es so etwas in Dänemark noch? Sie hatte nie davon gehört. Sich aber auch nie dafür interessiert. Doch, natürlich musste es diese Bunker auch in Dänemark geben. Es war noch gar nicht so lange her, dass die Gefahr eines Atomkriegs real war. Sie erinnerte sich aus ihrer Kindheit daran. Ein alter Film in der Schule, Anweisungen, wie man sich verhalten sollte, wenn die Russen mit Atomwaffen angriffen – »Krabbelt unter den Tisch, Kinder, bewahrt die Ruhe« –, die Furcht vor der großen, alles zerstörenden atoma ren Ragnarök, der Hölle auf Erden. In der Schulbibliothek hatten Bücher gestanden, in denen genau beschrieben wurde, wie Kopenhagen von den russischen Atombomben ausradiert werden würde, erst durch die Druckwelle und dann durch die Strahlung; sie erinnerte sich auch noch an die grauenhaften Bilder aus Hi roshima und Nagasaki. Pulverisierte Gebäude, Kinderskelette, deformierte Gesichter und dass die Lehrer mit finsterer Miene gesagt hatten, dass die damaligen Bomben im Vergleich zu den heutigen kaum mehr als Spielzeuge waren. Die Erinnerung an all das kam zurück, weil die Welt um sie herum die Zeit zurückgedreht hatte.
»Ministerpräsident« stand auf einem Schild, und daneben war ein Raum mit einem ovalen Tisch mit Platz für den engsten Regierungskreis. An der Wand
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