Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
und fragte sich, was hier eigentlich wesentlich war. Eine ertrunkene Balletttänzerin, höchstwahrscheinlich ermordet, wiederbelebt, bevor sie von einer Brücke in den Tod sprang; mit dem Wort »Echelon« auf den Lippen. Ein Polizeichef, der ihre Familie kannte. Wesentlich? Im Moment war das schwer zu sagen.
»Niels«, sagte Sommersted und senkte die Stimme. »Jetzt sind wir hier und müssen diese beiden Arschlöcher da drinnen richtig ausquetschen. Mein Tipp ist, dass jemand hier im Theater weiß, warum Dicte sterben musste. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Also, wer sind Sie?« Sommersted sah Niels fragend an. »Good cop oder bad cop?«
»Bad cop«, sagte Niels und öffnete die Tür.
22.
Vesterbro, 12.26 Uhr
Die Stimmen kamen näher. Er rüttelte wieder an der Tür, ver geblich. Drehte sich um, lief über den Gang zurück und warf schnell einen Blick um die Ecke. Es war ein Risiko, das wusste er, aber ein Risiko, das er eingehen musste. Es waren zwei Beamte. Sie standen vor einer Tür. Wenn er nur auf die andere Seite des Gangs kommen könnte, wo ein weiterer Gang abzweigte! Vielleicht könnte er dort einen Ausweg finden. Es war nicht sicher, aber allemal besser, als hier stehen zu bleiben und darauf zu warten, gestellt zu werden. Noch ein schneller Blick. Zwei Sekunden, in denen …
In diesem Moment ging das Licht aus. Jetzt . Er lief so schnell und lautlos, wie er konnte auf die andere Seite des Gangs hinüber, schlüpfte in den angrenzenden Gang und hielt die Luft an. Das Licht kam zurück. Einer der Beamten hatte den Lichtschal ter gefunden. Hatten sie ihn gesehen? Ein Fenster stand auf Kipp. In einem Verschlag mit lauter platten Fahrrädern. Die Tür war offen. Er schob ein paar Räder und einen Kinderwagen weg, gab jeden Versuch auf, leise zu sein, und kämpfte sich zu dem Fenster vor.
Er kletterte auf eines der Räder, das unter ihm wegkippte und in einer Kettenreaktion alle anderen Räder umstürzte. Stim men . Sie hatten den Lärm gehört. Jemand rief etwas, das er nicht verstand. Er riss das Fenster ganz auf. Es gab nicht viel Platz für seinen Körper. Schritte. Laufen. Er setzte einen Fuß auf eine Wasserleitung und drückte sich so weit hoch, dass er sich mithilfe seiner Ellenbogen durch das Fenster schieben konnte. Son nenschein und der befreiende Duft von frisch geschnittenem Gras. Endlich war er draußen, auf der Rückseite des Gebäudes. Ein paar Jungs spielten Fußball. Ein Mann führte seinen Hund aus. »Ruhig«, sagte er zu sich selbst. Er musste dem Drang widerstehen davonzurennen, musste gelassen wirken, denn wenn er zu laufen begann, würden alle auf ihn aufmerksam werden. Es war besser zu gehen, unbekümmert davonzuschlendern, als hätte er alle Zeit der Welt. Er spürte einen Stich in der einen Hand und wurde auf die Spritze aufmerksam, die er noch immer umklammerte. Er hätte sie beinahe vergessen. Ein Tropfen Blut sickerte auf sei nen Daumen. Er warf einen Blick über die Schulter. Im nächsten Augenblick würden sie durch die Tür gestürzt kommen.
23.
Rigshospital, 12.55 Uhr
Das Verfahren wird wieder aufgenommen, dachte Hannah und setzte sich. Wie ein Richter auf seinem Podium. Und der Richter fuhr mit seinem inneren Dialog fort: Um was ging es hier? War das Mord? Ein Tötungsdelikt? Eine Hinrichtung, Liquidierung? Ein Totschlag? Abschlachten? Abtreiben .
Warum musste diese Handlung, die im Grunde so simpel war, auf so viele Worte verteilt werden?
Das waren die Worte des Anwalts. Aber wen sollte der Anwalt verteidigen? Das ungeborene Kind? Oder Hannahs Recht auf Selbstbestimmung? Nein. Das ungeborene Kind. Die Verteidigung musste die Stimme des ungeborenen Kindes vertreten. Und der Staatsanwalt stand auf Hannahs Seite. Und kämpfte für ihr Recht. Das Recht auf ein ordentliches Leben.
Hannah nippte an ihrem Automatenkaffee, musterte die drei anderen, die um sie herum saßen und darauf warteten, dass ihre Nummern auf dem kleinen Display über dem Empfang angezeigt wurden. Schwangere Frauen, dicke Bäuche, unreine Haut. Und ängstliche Gesichter. Plötzliche Schmerzen, Blutungen, keine Kindsbewegungen mehr. Die vielen Sorgen der Schwangerschaft kennen keine Feiertage, nein, das sind neun Monate Albtraum, ermahnte Hannah sich selbst. Sie musterte die Männer, die die Frauen zu beruhigen versuchten, und musste an Niels denken. Den Menschen, in dessen Gegenwart es ihr am besten ging. Als wäre er ihr Liebhaber, Bruder und Vater in einer Person. Mit anderen Worten: der
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