Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
einzige Mann, den sie brauchte. Wenn das nicht geschehen wäre. Wenn sie das alles nach der Abtreibung nur vergessen könnten. Vielleicht könnten sie noch einmal nach Südengland fahren. Oder nach Venedig, wovon Niels so oft gesprochen hatte. Das tun, was sie am besten konnten. Einfach ohne Richtung laufen. Denn ihr Ziel hatten sie längst erreicht. Einander. Jetzt kam es nur noch darauf an, gemeinsam durch die Welt zu laufen. Hand in Hand. Wie sie ihn vermisste. Seinen Geruch, das Gefühl, mit ihrem Kopf auf seiner Brust zu liegen und seinem Herzschlag zu lauschen. Noch einmal musterte sie die anderen im Wartezimmer. Eine bedrückte Stimmung voller Glück und Nervosität – getragen von Menschen, die sich ehrfürchtig in die erste Reihe der Vorstellung über die Entstehung des Lebens gesetzt hatten. Gynäkologisch-obstetrische Klinik, hieß es, hätte aber eigentlich besser Tor des Lebens heißen sollen. Biologie, Chromosomen, Gene, aber noch mehr als das, denn auch all das Unerklärbare gehörte hierher. Das Bewusstsein. Die Seele. Die Forschung meinte, dass selbst ganz kleine Föten träumten. Hannah hatte gelesen, dass man so etwas messen konnte. Aber wovon träumten sie? Träume entspringen dem Unbewussten, hatte Freud gesagt. Aus dem, was das Bewusstsein des Individuums verdrängt hat. Bedeutete das, dass selbst so junge Föten ein Bewusstsein hatten? Eine Seele? Träumten sie von früheren Leben?
Nummer 32. Noch zwei Nummern. Es roch nach Kranken haus. Alkohol, Schweiß, Reinigungsmittel. Hannah versuchte, eine Zeitschrift zu lesen, ihren Gedanken Ruhe zu geben, bis der nächste Verhandlungstag des imaginären Verfahrens begann, das sich so lebensecht in ihrem Kopf abspielte, als säße sie wirklich im Gericht. Nummer 33. Der Staatsanwalt sprach in ihrem Kopf über die Krankheit, die sie den Rest ihres Lebens verfolgen sollte, welche Medizin sie auch nahm. Die Krankheit, die sie in gewissen Zeiten – besonders nachdem sie Niels kennengelernt hatte – so weit in den Hintergrund drängen konnte, dass sie sich fast geheilt fühlte. Aber das war eine Illusion gewesen, eine Selbsttäuschung auf verdammt hohem Niveau, das war ihr mittlerweile mehr als klar geworden: Niemand konnte sie heilen, ihre Krankheit entzog sich jedweder medizinischen Therapie, sie saß tiefer, als alle Medikamente reichten, steckte in ihren Knochen, in ihrem Blut, in ihren Genen – und vielleicht in ihrer Seele. Und sie war es, die es in sich trug. Sie hatte Johannes angesteckt, ihren geliebten Sohn. Hatte ihm die grausame Krankheit aufgezwungen, die ihn dazu genötigt hatte, sich das Leben zu nehmen. Geisteskrankheit war erblich. In diesem Fachgebiet war das Wissen in den letzten Jahren beinahe explodiert. Ein großer Teil der pathologischen Geistesgestörtheit war mit bloßer Biolo gie zu erklären. Ja, verehrte Geschworene: Der menschliche Sinn – selbst das komplizierteste Gemüt – kann in Formeln ausgedrückt und zu Mathematik reduziert werden. Und das Fazit der komplizierten Berechnung von Hannahs Sinn lag auf dem Friedhof Frederiksberg, wo Johannes begraben war.
Niels hatte sie oft zu trösten versucht. »Es kann doch auch Gus tav gewesen sein«, sagte er. »Vielleicht waren es Gustavs Gene.«
Aber Niels irrte sich. Gustav hatte Kinder mit anderen Frauen, und diesen Kindern fehlte nichts. Im Gegenteil, ihre akademische Karriere war kaum aufzuhalten. Nein, sie war die Schuldige. Sie trug es in ihrem Körper. Und jetzt war Hannah wieder kurz davor, sie weiterzugeben. Eine neue Existenz zu schaffen, die nicht in der Lage war zu leben und sich nur den Tod wünschte. Konnte man so etwas überhaupt Leben nennen? War es nicht viel zutreffender zu sagen, dass es ihr Fluch war, nicht Leben, sondern Tod zu erschaffen? Und hatte diese Frau, Hannah Lund, dann nicht das Recht, nein die Pflicht, sich selbst, der Gesellschaft und einer armen Seele die Hölle auf Erden zu ersparen?
34 . Die Ziffer blinkte in gefährlichen Rottönen. Eine Tür ging auf, und eine junge Schwester kam heraus. Hannah stand auf, ging auf sie zu und gab ihr die Hand.
»Guten Tag«, sagte die Schwester in freundlichem Ton. »Kommen Sie herein.«
Der Arzt war etwas älter und schien es vorzuziehen, sich hinter einer dunklen Brille und einem Pony, der bis zum Brillengestell reichte, zu verstecken. Ein ernster Typ. Er bat Hannah, Platz zu nehmen.
»Es ist akut?«, fragte der Arzt.
»Ja.«
»Sie wollen abtreiben?«
»Ja.«
Er brummte. »Naomi Metz?«
»Das
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