Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
sie.
36.
Universität Kopenhagen, 15.07 Uhr
Das Institut für Medien, Erkenntnis und Vermittlung strahlte eine wohlige Wärme aus, die Niels an eine Siesta im Süden denken ließ. Er warf einen Blick in einen leeren Hörsaal und ging weiter. Dann blieb sein Blick an der Tür hängen, hinter der ein gewisser Professor Lieberkind sich aufhalten sollte. Er klopfte an. Nichts geschah. Bestimmt hockte der an irgendeinem Strand in Amager und genoss die Sonne, dachte Niels, eigentlich sollte er das auch tun. Vielleicht waren ja Semesterferien, jedenfalls ließen die Zettel an den Wänden erkennen, dass Prüfungen anstanden. Gruppen von Studenten brüteten hinter Büchern, lernten und diskutierten. Als ihm eine junge Frau mit auf den Boden ge richtetem Blick entgegenkam, fragte Niels:
»Ist von den Professoren keiner da?«
Die junge Frau sah auf. »Warum?«
Niels zeigte ihr seinen Polizeiausweis, als wollte er sagen: Don’t ask.
»Versuchen Sie es weiter unten im Flur. Heute früh habe ich da ein paar Dozenten gesehen.«
Niels klopfte an alle Türen, aber ohne Erfolg. Als er sich um drehte, um wieder zu gehen, stand ein Mann mittleren Alters hin ter ihm.
»Haben Sie gerade bei mir geklopft?«
»Sind Sie Philosoph?«
Die Überraschung des Mannes war unverkennbar: »Wenn Sie so wollen.«
Niels zeigte ihm das Buch. Phaidon . »Ich brauche Hilfe bei dem hier.«
Das Büro des Philosophen war schlicht und minimalistisch eingerichtet – ein MacBook auf einer nur millimeterdicken Tischplatte, die von drei Beinen aus gebürstetem Edelstahl getragen wurde. Keine Bücher, nur ein einzelnes Zitat an der Wand: »A conclusion is the place where you got tired of thinking.« Auf dem Tisch stand eine Kaffeetasse neben einer Schlüsselkarte mit seinem Namen: Henrik Vartov.
» Phaidon, das sind Sokrates’ letzte Gedanken vor seinem Tod«, sagte Vartov und deutete auf den Stuhl vor sich. Niels setzte sich.
»Sie wissen, wer Sokrates war?«
»Ein griechischer Philosoph, nicht wahr?«
»Man kann Sokrates’ Bedeutung gar nicht hoch genug bemessen. Einstein, Sokrates, Gandhi, Jesus.«
»In dieser Liga?«
Henrik Vartov lächelte: »Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass er diese Liga anführt. Ohne Sokrates – kein Jesus. Kein Platon. Kein griechisches Imperium, erschaffen aus der Kraft der Gedanken.«
Er räusperte sich und fuhr fort: »Als junger Mann war Sokra tes ein Krieger, der heroisch in dem endlosen Kampf gegen Sparta gekämpft hat. Später war er nur noch ein kleiner, alter, hässlicher Mann, der barfuß durch Athen gelaufen ist und seine Mitmen schen mit seinen beunruhigenden Fragen zur Erkenntnis genötigt hat.« Der Philosoph grinste. »Könnten Sie sich heute so etwas vorstellen?«
Niels schüttelte lächelnd den Kopf und sah seinem Gegenüber in die Augen. Vartov schien einen Moment lang mit dem Gedan ken zu spielen, selbst einmal barfuß durch Kopenhagen zu laufen.
»Er war damals der Einzige, der sich gegen die idiotischen Kriege der Griechen und ihre schlechte Staatsverwaltung aufgelehnt hat. Das ging so lange gut, bis Athen den endgültigen Krieg gegen Sparta verlor. Dann brauchten sie einen Sünden bock.«
»Und das war Sokrates?«
»Ein alter Mann, der barfuß herumlief und von Almosen lebte. Ja, er wurde zum Tode verurteilt. In der Zelle erhielt er Besuch von seinen Schülern.«
»Er hatte Schüler?«
»Ja, betrachtete sie als Jünger. Vergleichbar mit Jesus.«
»Okay.«
»Sie besuchten ihn. Und er legte ihnen seine vier Beweise für die Existenz und die Unsterblichkeit der Seele vor. Genau darum geht es in Phaidon .«
»Und wie lauten diese Beweise?«
Henrik Vartov sah Niels ein paar Sekunden lang an. Niels glaubte, ein leises Seufzen zu hören.
»Sie meinen, dass das für einen dummen Polizisten wie mich nur schwer zu verstehen ist?«
»Das wäre möglich, aber wir können es probieren.«
Niels lächelte. Und sah auf sein Handy. 15.10 Uhr. Noch fünf zig Minuten bis zu Dictes Verabredung. Noch immer keine Nach richt von Casper.
»Wie gesagt: Er hat vier Beweise für die Existenz und Unsterblichkeit der Seele vorgelegt«, sagte Vartov und zeigte Niels vier Finger. An einem davon prangte ein breiter Ring, auf dem sich das Sonnenlicht spiegelte und der Niels an Hannah erinnerte.
»Erstens, der Gedanke, dass alles ein Kreislauf ist«, sagte Vartov. »Sokrates führt an, dass die Natur alles in einer Art Kreislauf eingerichtet hat. Aus etwas Größerem entsteht immer etwas Kleineres.
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