Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
gewisser Weise, ja.«
»Das hat man einfach so festgelegt?«
»Ja, so ist es.«
»84 Tage.«
»Das kann hinkommen.«
»2 016 Stunden. 120 960 Minuten.«
»Sie sind gut in Zahlen.«
»Und eine Minute vorher, also mit 120 959 Minuten, hat das Leben noch nicht begonnen?«
»Wenn man es buchstäblich nimmt.«
»120 960 Minuten sind dann also der reelle Nullpunkt, an dem alles beginnt. Man kann sagen: Das Leben beginnt nach 120 960 Minuten. Da wird die Seele … geboren. Können wir dieses Wort nehmen?«
Wieder dieses gequälte Herumrutschen. Als wäre der Stuhl plötzlich zu klein.
Hannah fuhr fort. Etwas in ihr – etwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es war – konnte nicht aufhören:
»Und was ist in der Zeit zwischen der Empfängnis, also der nullten Minute und der 120 960. Minute? Was ist man dann? Nichts?«
»Hannah.« Eva seufzte. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir auf diese Art irgendetwas erreichen. Die Diskussion über das Thema Abtreibung ist natürlich interessant, auch in breiterer Perspektive, aber darüber sollten wir jetzt eigentlich nicht reden. Ich würde lieber wissen, was für Gedanken Sie sich über die Abtrei bung machen, die Sie bei sich vornehmen lassen wollen. Haben Sie Angst?«
Hannah wusste nicht, was sie sagen sollte. Die richtige Antwort hätte Ja und Nein gelautet. Stattdessen sagte sie: »Das sind aber wirklich meine Gedanken. Es geht mir um die Frage, was ein Mensch zwischen der Empfängnis und der 120 960. Minute ist. Nennen wir es einen Zustand. Worauf läuft der hinaus? Ich kann nicht anders, ich sehe darin so etwas wie einen Zustand zwischen Leben und Tod. 120 960 Minuten lang befinden wir uns in einem Zustand, über den die Welt nicht spricht, von dem aber alle wissen, dass es ihn gibt. Ein Zustand, der weder Leben noch Tod ist.«
»Sie mit Ihren Zahlen.«
»Nicht ich habe diese Zahlen erfunden. Das kann ich Ihnen versichern.«
Eva begann, etwas müde auszusehen. »Ich verstehe ja, dass es schwer ist. Das ist es für alle. In vielen Krankenhäusern sammelt man die abgetriebenen Föten und sorgt dafür, dass sie auf einem Friedhof beerdigt werden. Das zeigt mit aller Deutlichkeit, dass ein Fötus alles andere als eine Sache ist, sondern … etwas an deres.«
»Genau. Aber was?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ein halber Mensch?«, schlug Hannah vor.
»Das kann man nicht sagen.«
»Ein Mensch, der kein Leben bekommen darf?«
»Ich finde wirklich, Sie sollten Ihre Perspektive überdenken.« Eva spielte mit dem Wasserglas. »Sie sollten anders denken: Verkrafte ich es, ein Kind zu bekommen? Was für ein Leben wird das Kind bekommen? Ist es dem Kind gegenüber verantwortbar, es in diese Welt zu setzen? Solche Fragen. Was denken Sie darüber?«
»Ich würde gerne wissen, wie die Föten sterben.«
Die Schwester seufzte: »Man saugt sie heraus. Die Gebärmutter wird entleert. Damit sind geringe oder gar keine Schmerzen verbunden.«
»Für mich oder das Kind?«
»Für Sie.«
»Und das Kind?«
»Das ist natürlich schwer zu sagen. Aber es gibt Untersuchungen, die zu dem Schluss gekommen sind, dass die Föten erst nach der 24. Woche so etwas wie Schmerzempfinden entwickeln. Andere sind da allerdings anderer Meinung.«
»Was glauben Sie?«
Sie zuckte mit den Schultern und gab ihr zu verstehen, dass das Gespräch sich dem Ende näherte. »Das weiß ich nicht.«
»Und was glauben Sie?«
»Sie können von dieser Abtreibung noch zurücktreten, Hannah. Deshalb führen wir ja dieses Gespräch. Haben Sie es sich anders überlegt?«
Schweigen.
»Das wäre vollkommen okay.«
Hannah bereute allenfalls, dass sie gekommen war. Sie stand auf. Eva ging auf sie zu und umarmte sie in einer gut gemeinten Geste. Auf dem Weg nach draußen dachte Hannah an die ersten 120 960 Minuten. Genau da lag der Schlüssel. Das musste es sein. Ein Leben, das kein Leben war. Etwas, das sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod befand. Und wenn es kein Leben war, war es auch kein Mord, wenn man diesen Zustand be endete. Oder anders ausgedrückt: den Föten das Leben verweigerte. Aber es war doch Leben. Ein kleines Leben. Mindestens etwas, das im Begriff war, zu Leben zu werden. Und wenn man das beendete, war das dann ein kleiner Mord? »Vielleicht suche ich die Antworten an den verkehrten Stellen«, sagte Hannah zu sich selbst. »Besonders eine Antwort – die entscheidende: Ist ein Leben mit Wahnsinn ein lebenswertes Leben?« Und wer diese Frage beantworten konnte, wusste
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