Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
mit mir.
»Was haben sie mit dir gemacht? Hab keine Angst, ich werde bis zur letzten Minute bei dir bleiben.«
Sie erzählte mir, dass auch sie zur Heirat mit Onkel Ali gezwungen worden war. Doch mit der Zeit habe sie gelernt, ihn zu lieben. Sie beruhigte mich mit der Aussicht, dass ich das gleiche Glück haben könnte wie sie.
»Warte hier auf mich. Ich suche jemanden, der deine Schminke erneuern kann, denn man sieht die Spuren deiner Tränen.«
Im Festsaal herrschte bereits eine ungeduldige Spannung. Nachdem mein Make-up noch einmal aufgefrischt worden war, half man mir in das Hochzeitskleid.
Dann trat ich aus dem Zimmer, das nun nicht mehr meines war. Für immer verließ ich meinen kleinen sicheren Hort. Auch wenn das Leben in diesem Haus für mich mit sehr viel Pein verbunden gewesen war, fiel es mir schwer, mich davon zu trennen. Niemand schien meine Verstörung zu ahnen. Ein letztes Mal blickte ich mich um, denn ich wollte die Bilder meines Elternhauses tief in meiner Erinnerung festhalten.
Die Frauen schubsten einander, um einen Blick auf mich zu erhaschen, während ich Ausschau nach meiner Mutter hielt. Sie blieb jedoch unauffindbar, und so setzte ich meinen Weg fort.
»Nun geh schon, meine Tochter. Geh rasch hinunter«, ermutigte mich Tante Karima.
Man warf einen dichten Schleier über meinen Kopf, den ich auf dem Weg ins Auto nicht lüften durfte.
Das Gesicht der Braut muss verborgen bleiben, bis sie den Festsaal betritt, damit der böse Blick sie nicht treffen kann. Meine Mutter glaubte fest daran, und wenn zu Hause ein Unglück geschah, war ihrer Meinung nach immer der böse Blick von Leuten daran schuld, die uns unseren Wohlstand neideten. An einem so wichtigen Tag wie heute musste dieser Zauber also um jeden Preis ferngehalten werden.
In Algerien ist es Sitte, dass der Vater der Braut den Arm über die Tür seines Hauses legt. Die Braut schreitet unter seinem ausgestreckten Arm über die Schwelle, und der Vater küsst sie ein letztes Mal. Dieses Ritual soll zum Ausdruck bringen, dass die Braut keine Minute ohne Schutz ist.
Als ich unter dem Arm meines Vaters hinausschritt, küsste er mich und zischte mir dabei ins Ohr: »Du verdienst nicht einmal, dass ich dir auf Wiedersehen sage!« Wieder traten mir die Tränen in die Augen.
Das Auto für die Braut bot einen überwältigenden Anblick: eine schwarze Luxuslimousine meines Vaters, die mit Bändern und weißen Blumen geschmückt war. Farid, der gerade seinen Führerschein gemacht hatte, nahm seine Rolle als Chauffeur sehr ernst. Umgeben von ein paar Frauen, die mich begleiteten, stieg ich eilig in den Wagen. Im Innern befreite man mich von dem dichten Schleier, unter dem ich kaum Luft bekam. Nur den leichten weißen Schleier, der zu meinem Kleid gehörte, behielt ich vor dem Gesicht.
Mein Bruder hatte mich seit drei Tagen nicht gesehen. Er strahlte mich an, doch ich war außerstande, sein Lächeln zu erwidern. Tante Karima nahm meine Hand und drückte sie herzlich.
»Wir sind da«, verkündete Farid feierlich.
Man legte mir erneut den dichten Schleier über den Kopf und führte mich in den Saal, in dem die Eheschließung stattfinden sollte. Dort herrschte eine drückende Hitze, sodass ich mich so schnell wie möglich der hinderlichen Kopfbedeckung entledigte.
Während die Gäste in den Saal traten, begann die Musik zu spielen. Tante Karima fragte, wie ich mich fühlte.
»Wie eine zum Tode Verurteilte unmittelbar vor der Hinrichtung!«, antwortete ich leise.
»Sprich nicht so, meine Tochter! Am Tag der Hochzeit soll man nicht vom Unglück reden!«
Ich wurde auf einen großen Stuhl gesetzt, der auf einem Podest stand, damit alle mich sehen konnten.
Man reichte mir ein Kästchen, in dem ein Ring lag. Ich nahm es, ohne genau zu wissen, was ich damit tun sollte. Dann wies man mich an, den Ring an den Finger meines Bräutigams zu stecken, wenn er das Gleiche bei mir getan hätte. Der bloße Gedanke daran bedeutete eine Qual für mich.
Die Freudenschreie der Frauen wurden jetzt immer schriller und durchdringender. Ihre Blicke wandten sich von mir ab und richteten sich auf meinen zukünftigen Ehemann, der den Saal betrat. Diesen Augenblick nutzte ich, um ihn genau zu mustern. Er war mittelgroß, hatte breite Schultern und war recht stämmig gebaut. An seiner Kraft bestand kein Zweifel. Die Haare und Augen waren dunkel, und sein üppiger schwarzer Schnurrbart war sorgfältig gestutzt.
Er schritt zu dem leeren Platz an meiner Seite. Ich sah zu
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