Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
kapiert, wer der Hirte und wer das Vieh ist. Du kannst ja deine Familie fragen, doch es würde mich sehr wundern, wenn sie dir recht gäbe. Ich weiß, dassdein Vater ein strenggläubiger Muslim ist. Er kennt die Scharia besser als ich. Du solltest mir gehorchen und die Grundgedanken des Islam akzeptieren, sonst wird dein Leben sehr schwierig werden. Ich will keine Ehefrau haben, die mir nicht gehorcht. Wenn ich essen will, wirst du für mich kochen, und wenn ich schlafen will, wirst du mir eine Decke bringen, und wenn ich Lust auf Liebe habe, wirst du mich befriedigen. Ich will nicht den leisesten Zweifel daran haben, dass du mir gehorchst!«
Die beiden folgenden Tage vergingen wie im Fluge. Vor der Abreise besuchte ich ein letztes Mal meine Familie, um mich von ihr zu verabschieden. Meine Mutter gab mir die beiden Koffer, die sie für mich gepackt hatte. Noch einmal redete sie mir ins Gewissen und wiederholte unentwegt ihre Verhaltensmaßregeln. Dieses Mal war nicht davon die Rede, dass ich in der Not auf sie zählen konnte.
Mein Vater saß wie immer allein vor dem Fernseher. Ich setzte mich zu ihm und versuchte Interesse für seine Sendung aufzubringen.
»Warum kommst du zu mir?«, fragte er, erstaunt über mein geduldiges Warten. »Brauchst du Geld? Wie viel denn?«
Ich antwortete, dass ich kein Geld brauchte, sondern ein letztes Mal bei ihm sein wollte. Am liebsten hätte ich ihn um seinen Segen und seinen Rückhalt gebeten, doch das war mir nicht möglich. Wie gerne hätte ich von ihm gehört, dass er auch nach der Wahl meines Ehemannes mein Vater blieb, der mir in der Not beistehen und mich beschützen würde! Doch gleichzeitig wusste ich natürlich, dass er dies niemals sagen würde.
Also umarmte ich zuerst meine kleine Schwester und dann nacheinander meine Brüder. Nur Malek weinte.
Als ich fortging, wandte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf mein Heim und meine Familie. Meine Mutter winkte mir nach, und selbst diese schlichteGeste wärmte mir das Herz. Ich verließ mein Zuhause, doch ein großer Teil meines Herzens blieb dort zurück.
Mein Weg würde mich weit fortführen, und nur dieser gewalttätige Mensch würde bei mir sein. Niemand würde sich um mich sorgen. Meine Eltern hatten gewollt, dass ich mein Heim so schnell wie möglich verließ – als sei ich eine Aussätzige.
Der Mann, der von nun an mein Leben lenken würde, wartete bereits auf mich.
Ich stieg hinten in den Wagen. Mein Ehemann saß neben meinem Vater, der uns nun zum Flughafen fuhr.
Ich versuchte, mir die vorbeiziehenden Bilder einzuprägen, als sähe ich sie zum letzten Mal. Bei diesem Gedanken kamen mir erneut die Tränen. Mein Vater bemerkte es und fragte:
»Warum weinst du, obwohl du in das Land deiner Geburt zurückkehrst? Du hast einen Ehemann, der dort für dich sorgen wird. Jetzt sei erwachsen, und hör auf zu heulen! Sei deinem Mann eine würdige Ehefrau. Achte stets die Vorschriften unseres Glaubens, und lass dich niemals von der französischen Kultur beeinflussen, meine Tochter! Entferne dich nicht von unseren religiösen Traditionen. Im Übrigen wird auch dein Ehemann darauf achten. Als Hochzeitsgeschenk habe ich euch ein schönes Haus gekauft, sodass ihr nicht unter der schlimmen Mietsituation in Paris leiden müsst. Es ist bereits vollständig möbliert. Ihr werdet ja sehen! Mehr verrate ich nicht. Also, zeig mir, dass du glücklich bist!«
Ich lächelte ihn an, denn ich war glücklich, dass er dieses Mal so ruhig mit mir sprach. Und das Geschenk zeigte, dass er an mich gedacht hatte und mir eine Freude machen wollte.
Aber er hat nie erfahren, wie schwer mir das Herz an diesem Tag war und wie sehr ich mich davor fürchtete, allein mit Abdel nach Frankreich zu reisen.
Ich wusste jetzt, was für ein Mann mein Gatte war. Er würde seine Macht über mich rücksichtslos ausnutzen. Er wusste, dass er alles mit mir tun konnte, was er wollte. Und so empfand ich nur Angst, wenn ich an meine Zukunft in Frankreich dachte!
Mittlerweile sprachen Abdel und mein Vater über geschäftliche Dinge, sodass ich sie beobachten konnte. Das waren also die beiden Männer, denen ich mein ganzes Leben lang unterworfen sein sollte. Bisher hatte mein Vater über mich bestimmt, jetzt übernahm Abdel das Ruder. Wie froh musste mein Vater sein, ihm diese Verantwortung übergeben zu können, die er als solche Last empfunden hatte!
Als wir am Flughafen ankamen, überreichte er Abdel ein Bündel Geldscheine, und mein
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