Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
kam wieder zu mir. Norah bettete meinen Kopf auf ihren Schoß, wiegte mich wie eine Mutter ihr Kind und versicherte mir immer wieder, dass sie da sei.
»In ein paar Tagen wird alles besser sein. Mach dir keine Sorgen, Mama! Hussein kommt uns sicher bald zu Hilfe.«
Ich hatte überall Schmerzen, und mein Kopf fühlte sich an, als würde er zerspringen. Der letzte Fußtritt hatte direkt meinen Kopf getroffen.
Was würde jetzt noch kommen? Ich starrte an die Decke und überließ mich meinen Gedanken. Als ich noch klein war, hatte meine Mutter mich oft hierhergeschickt, um Lebensmittel aus den Schränken zu holen. Heute lag ich nun selbst hier, als Gefangene mit meinen Töchtern! Unsere Situation kam mir so unwirklich vor; der Terror, dem wir hier ausgesetzt waren, überstieg meine Vorstellungskraft.
Meine Familie hatte beschlossen, uns hart zu bestrafen. In ihren Augen war ich der Quell, der Unehre über sie gebracht hatte. Ihr Ruf war beschädigt, und das rechtfertigte in ihren Augen offenbar jede Misshandlung! War es denn ein Verbrechen zu lieben? Meine Gedanken flogen zu Hussein, der jetzt unsere einzige Hoffnung auf Freiheit darstellte.
Am Abend klärte meine Mutter uns über die Regeln auf, die wir von nun an zu befolgen hatten.
»Du wolltest uns zerstören, aber das wird dir nicht gelingen. Wir werden dich dafür büßen lassen, was du uns angetan hast!«, stieß sie wütend und verächtlich hervor. »Von jetzt an werdet ihr diesen Raum nicht mehr verlassen. Wenn ihr zur Toilette müsst, klopft ihr an die Tür, und jemand wird euch dorthin begleiten. Ihr werdet euch nicht waschen, da ihr ohnehin beschmutzt seid. So könnt ihr auch schmutzig bleiben.Amir wird euch zu den Mahlzeiten einen einzigen Teller mit Speisen bringen, von dem ihr alle drei essen könnt. Wenn ihr wieder hier herauswollt, braucht ihr nur euer Familienoberhaupt herbeizurufen und ihm zu geben, was ihm zusteht. Dann könnt ihr mit ihm gehen. Für die Mädchen kommt es nicht infrage, dass sie die Schule besuchen. Außerdem werden sie jeden Tag mit ansehen, wie ihre Mutter die Schläge empfängt, die sie verdient. Wenn ihr beide ihr die Schläge ersparen wollt, dann versucht, euren Vater davon zu überzeugen, euch hier herauszuholen.«
Mit diesen Worten war meine Mutter ebenso plötzlich verschwunden, wie sie erschienen war.
Ich konnte es einfach nicht fassen, dass Eltern ihrem eigenen Kind ohne jegliche Gewissensbisse oder Schuldgefühle so viel Leid zufügen können. Selbst wenn ich so verdorben war, wie sie behaupteten, hatte ich eine solche Strafe nicht verdient.
Dieser immerwährende Liebesentzug und die wiederholten Misshandlungen hätten mich vermutlich lebensmüde stimmen oder in den Wahnsinn treiben können, aber meine Töchter waren das Band, das mich am Leben festhielt. Sie waren mein Hoffnungsschimmer und meine Triebkraft; sie hinderten mich daran aufzugeben. Bis zu meinem letzten Atemzug war ich verantwortlich für sie. Wenn mir etwas zustoßen würde, was sollte dann aus ihnen werden? Sie brauchten mich, und ich brauchte sie. Nein, ich würde mich von diesen Menschen nicht zerstören lassen, die ich jetzt nicht länger als meine Familie ansah! Ich musste einfach wieder Mut fassen und stärker denn je sein – um meiner Töchter willen!
Ein paar Stunden später brachte Amir uns einen Teller mit Nahrung und stellte wortlos eine Flasche Wasser daneben. Wir stürzten uns auf das Essen, als hätten wir seit Tagen nichts mehr zu uns genommen.
»Mama, warte«, hielt Melissa uns zurück. »Ich werde als Erste essen, dann soll Norah essen und als Letzte du. Vielleicht haben sie Mittel in die Speisen getan, um uns bewusstlos zu machen und mich und Norah zu Papa zurückzubringen. Ich will auf keinen Fall von dir getrennt werden. Ich will, dass wir immer zusammenbleiben!«, schluchzte sie.
»Vielleicht hat sie recht. Auf jeden Fall sollten wir vorsichtig sein!«, meinte Norah.
»Einverstanden, ihr beiden! Ich werde als Letzte essen, aber es wäre schön, wenn ihr mir ein wenig übrig lasst.«
Da mussten wir trotz allem lachen! Diese wenigen Sekunden entspannten die Atmosphäre und ließen uns unser Leid kurz vergessen. Würde ich sie jemals dafür entschädigen können? Das Glück war mir bisher immer nur in kleinen Brocken zuteil geworden, und stets hatte ich dafür bezahlen müssen.
An jenem Tag habe ich mir geschworen, meine Töchter aus diesem Teufelskreis des Unglücks zu befreien.
Seit ihrer Geburt mussten sie die Leiden und
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