Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
mein Liebling. Wir haben nur eine Chance, wenn uns deine Großmutter allein zur Toilette begleitet. Und dann müssen wir so rasch wie möglich fliehen. Was hältst du davon, meine hübsche Melissa?«
»Ich habe immer noch Angst, aber ich vertraue dir. Und ich weiß, dass ich sehr schnell laufen kann.«
»Und du, Norah? Du bist so schweigsam. Was denkst du?«
»Ich kann es noch gar nicht fassen, denn ich dachte, es wäre unmöglich zu fliehen. Und ich bin erstaunt über deine Entschlossenheit …«
Sie verstummte und fuhr erst nach ein paar Sekunden fort:
»Da wir nichts zu verlieren haben und dein Plan gut ist, bin ich einverstanden.«
Da erst begriff ich: Ich hatte eine Entscheidung getroffen, bei der es um alles oder nichts ging. Und dies hatte mir die Kraft gegeben, einen klaren Plan zu entwerfen und meine Töchter zu überzeugen.
»Packt zuerst einmal eure Schultaschen. Melissa, vergiss deinen Bären nicht, er ist unser Glücksbringer. Er war dir in diesem Gefängnis ein treuer Begleiter. Danach besprechen wir unser genaues Vorgehen.«
Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Mehrmals gingen wir unsere Flucht in allen Einzelheiten durch, bis wir uns trotz aller Ungewissheit zur Tat bereit fühlten. Der Augenblick, der über unser Schicksal entscheiden würde, war gekommen. Ich gab meinen Töchtern eine letzte Anweisung:
»Stellt euch hinter mich, und haltet euch bereit, mir zu folgen!«
Wir waren schmutzig und müde, in einer rundum jämmerlichen Verfassung. Die Mädchen trugen seit einem Monat dieselbe Kleidung, ich war kahl geschoren und sah laut meinen Töchtern wie ein Gespenst aus. Zum Glück konnte ich mich hinter meinem Schleier verbergen!
Nachdem ich diesen angelegt hatte, drängten wir uns dicht an die Tür, und ich klopfte, um zur Toilette gehen zu dürfen. Kaum hatte meine Mutter die Tür geöffnet, stieß ich sie mit aller Kraft zu Boden. Dann fasste ich Melissas Hand und überzeugte mich, dass Norah uns folgte. Meine Mutter versuchte sie zurückzuhalten, aber Norah konnte sich losreißen. Wir eilten die Treppe hinunter, so schnell wir konnten, um auf die Straße zu gelangen. Wir rannten wie drei dem Gefängnis entflohene Sträflinge, das Tageslicht blendete uns ebenso wie der helle Staub auf der Straße. Melissa wollte schon langsamer werden, denn sie spürte ihre Beine nicht mehr.
»Das ist nicht schlimm, Melissa, sondern ganz normal: Unsere Beine sind schwach, denn wir haben sie lange nichtbewegt. Mach dir keine Sorgen, und lauf einfach weiter! Wir müssen so schnell wie möglich von hier fort!«
Die Leute sahen uns nach, als kämen wir von einem unbekannten Planeten!
Doch ihre Blicke waren uns gleichgültig; es zählte nur die Entfernung von diesem höllischen Gefängnis, und diese wurde mit jedem unserer Schritte größer.
»Wohin gehen wir?«, wollte Norah wissen.
»Zu Layla. Sie ist die Einzige, der wir vertrauen können. Nur Mut, gleich haben wir es geschafft!«
Layla war die Mutter einer Freundin von Melissa, die ich in der Schule kennengelernt hatte. Sie hatte mir ihre Hilfe angeboten, falls es einmal notwendig sein sollte. Zum Glück gab es immer noch mitfühlende Menschen, auf die man zählen konnte. Da meine Familie sie nicht kannte, würden wir bei ihr in Sicherheit sein. Gebe Gott, dass sie zu Hause ist!, dachte ich, als ich klingelte. Uff! Die Tür ging auf!
»Samia, was für eine Überraschung!«, staunte sie, als sie uns erkannte. »Wo wart ihr denn? Mein Gott! Wie seht ihr denn aus?«, fuhr sie erschrocken fort.
»Das ist eine lange Geschichte, Layla. Bitte lass uns hinein. Es darf uns niemand sehen!«, erwiderte ich und sah mich ängstlich um.
Sie begriff den Ernst der Lage und ließ uns eintreten.
»Setzt euch, und kommt erst einmal wieder zu Atem.«
Melissa war froh, die Mutter ihrer Freundin wiederzusehen. Sie freute sich über den herzlichen Empfang.
»Könnte ich einmal in den Spiegel sehen, Layla?«
»Was ist denn passiert, Samia? Erzähl mir alles. Als mir auffiel, dass euer Haus leer stand und Melissa nicht mehr in die Schule kam, bin ich zu deinen Eltern gegangen, um nach euch zu fragen. Deine Mutter sagte mir, ihr wärt im Ausland, um deinen Ehemann zu suchen. Ich war traurig, dass du dich nicht von mir verabschiedet hattest und ich vermutlich niemehr von dir hören würde«, erzählte sie mit Tränen in den Augen.
Ich schloss sie in die Arme. Bewegt von ihrer Anteilnahme, begann auch ich zu weinen.
»Wenn du wüsstest, was wir durchgemacht
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