Der Schlüssel zu Rebecca
Wieso war ihr nie eingefallen, daß Vandam verheiratet sein könnte? Wie dumm von ihr anzunehmen, daß sie ihn als erste begehrt hatte! Sie fühlte sich so albern, daß sie rot wurde.
Sie schüttelte Billy die Hand. »Freut mich. Ich heiße Elene Fontana.«
»Wir wissen nie, wann Dad nach Hause kommt. Ich hoffe, daß Sie nicht zu lange warten müssen.«
Noch hatte sie sich nicht wieder in der Gewalt. »Keine Sorge, es macht mir nichts aus, spielt überhaupt keine Rolle ...«
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«
Er war sehr höflich, wie sein Vater; seine Förmlichkeit wirkte entwaffnend. »Nein, danke.«
»Ich muß jetzt mein Abendbrot essen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie allein lasse.«
»Aber natürlich ...«
»Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie nur nach Gaafar.«
»Vielen Dank.«
Der Junge ging hinaus, und Elene ließ sich in einen Sessel fallen. Plötzlich bemerkte sie ein Foto auf dem marmornen Kaminsims. Sie stand auf, um es sich anzuschauen. Es war das Bild einer schönen Frau von Anfang Zwanzig, einer kühlen, aristokratisch aussehenden Frau mit einem leicht hochmütigen Lächeln. Elene bewunderte das Kleid, das sie trug: etwas Seidenes, Wallendes, das ihre schlanke Figur mit eleganten Falten umgab. Haar und Make-up waren perfekt. Die Augen schienen überraschend vertraut, klar,aufmerksam und hell. Elene fiel ein, daß Billy die gleichen Augen hatte. Dies war also Billys Mutter, Vandams Frau, eine Klassische englische Schönheit mit überlegener Miene.
Elene war eine Närrin gewesen. Solche Frauen standen Schlange, um Männer wie Vandam zu heiraten. Als ob er an ihnen allen vorbeigegangen wäre, nur um sich in eine ägyptische Kurtisane zu verlieben! Sie überlegte sich, was ihn von ihr trennte: Vandam war geachtet, und sie hatte einen schlechten Ruf; er war Brite und sie Ägypterin; er war – vermutlich – Christ, und sie war Jüdin; er hatte eine gute Erziehung genossen, und sie stammte aus den Slums von Alexandria; er war fast vierzig und sie dreiundzwanzig ... Die Liste war lang.
Hinten im Rahmen des Fotos steckte eine Seite, die aus einer Zeitschrift herausgerissen war. Das Papier war alt und vergilbt; darauf war das gleiche Foto abgebildet. Elene entdeckte, daß es eine Seite aus der Zeitschrift »The Tatler« war. Sie hatte davon gehört: Die Frauen höherer Offiziere in Kairo lasen »The Tatler« gern, da er über alle trivialen Ereignisse der Londoner Gesellschaft berichtete. Das Bild von Mrs. Vandam nahm den größten Teil der Seite ein, und ein Textabschnitt unter dem Foto teilte mit, daß sich Angela, Tochter von Sir Peter und Lady Beresford, mit Leutnant William Vandam, Sohn von Mr. und Mrs. John Vandam aus Gately, Dorset, verlobt habe. Elene faltete den Ausschnitt wieder zusammen und steckte ihn zurück in den Rahmen.
Das Bild der Familie war vollständig: attraktiver britischer Offizier, kühle, selbstbewußte englische Ehefrau, intelligenter, liebenswerter Sohn, prächtiges Haus, Geld, hohe soziale Stellung und Glück.
Sie ging im Zimmer umher und fragte sich, ob es noch weitere Überraschungen geben würde. Der Raum war natürlich von Mrs. Vandam eingerichtet worden, mitabsolut »neutralem« Geschmack. Das unaufdringliche Muster der Vorhänge war auf die zurückhaltende Tönung der Möbelbezüge und die eleganten gestreiften Tapeten abgestimmt. Wie wohl das Schlafzimmer aussehen mochte? Wahrscheinlich würde es auch von distanziertem Geschmack zeugen. Vielleicht würde Blaugrün die Hauptfarbe sein, die Nuance, die Nilgrün genannt wurde, obwohl sie nicht im geringsten an das trübe Wasser des Nils erinnerte. Ob sie Einzelbetten hatten? Elene hoffte es. Sie würde es nie erfahren.
An einer Wand stand ein kleines Klavier. Wer mochte es spielen?Vielleicht saß Mrs. Vandam manchmal abends hier und ließ Chopin erklingen, während Vandam dort drüben im Sessel saß und ihr liebevoll zusah. Vielleicht begleitete Vandam sich selbst, während er ihr mit kräftiger Tenorstimme romantische Balladen vortrug. Vielleicht hatte Billy eine Klavierlehrerin und übte jeden Tag nach der Schule Tonleitern. Elene blätterte die Partituren durch, die sich auf dem Klavierhocker stapelten. Sie hatte recht gehabt, was Chopin betraf: Ein Buch enthielt seine Walzer.
Sie nahm sich einen Roman, der auf dem Klavier lag und öffnete ihn. Die erste Zeile lautete: »Heute nacht träumte mir, ich sei wieder in Manderley.« Die einführenden Sätze weckten ihr Interesse. Ob Vandam das Buch gerade
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