Der Schneider
Scheißkanal bauen würde.
»Harry?« Um ihn einzuschüchtern, schreit sie so laut sie kann. »Harry? Wo hast du die Briefe dieser miesen Hure versteckt? Harry, sag es mir!«
Bücher über die Kanalverträge. Bücher über Drogen und »Lateinamerika, was nun?«. »Mein Mann, ein Schwein, was nun?« trifft’s schon eher. Und »Armer Ernesto, was nun?«, falls Harry irgendwas damit zu tun hat. Louisa setzt sich hin und redet ruhig und vernünftig auf Harry ein, in einem Tonfall, der ihm nicht den Mut nehmen soll. Schreien hat keinen Zweck mehr. Sie spricht mit ihm, wie Erwachsene miteinander sprechen sollten, und sitzt dabei in dem Teaksessel, in dem ihr Vater saß, wenn er sie zu überreden versuchte, sich auf sein Knie zu setzen.
»Harry, ich verstehe nicht, was du, egal wann du nun von deinen undurchsichtigen Geschäften nach Hause kommst, Nacht für Nacht in deinem Zimmer machst. Falls du einen Roman über Korruption schreiben solltest, eine Autobiografie oder eine Geschichte des Schneiderhandwerks, kannst du’s mir ruhig verraten, schließlich sind wir verheiratet.«
Harry macht sich klein, wie er das nennt, wenn er über die falsche Demut des Schneiders scherzt.
»Lou, ich führe die Bücher. Tagsüber, wenn dauernd die Türglocke geht, komme ich einfach nicht dazu.«
»Die Bücher der Farm ?«
Schon ist sie wieder gehässig. Die Reisfarm ist zwischen ihnen zum Tabuthema geworden, und das sollte sie lieber respektieren: Ramón ist gerade dabei, die Finanzen umzustrukturieren, Lou. Angel scheint nicht mehr ganz zuverlässig zu sein, Lou.
»Meine Geschäftsbücher«, murmelt Harry mit Büßerstimme.
»Harry, ich bin nicht unbegabt. Ich hatte in Mathe eine Eins. Ich kann dir jederzeit helfen, wenn du willst.«
Er schüttelt bereits den Kopf. »Um solche Zahlen geht es nicht, Lou. Das ist eher eine schöpferische Tätigkeit. Es geht um frei erfundene Zahlen.«
»Hast du dir deswegen so viele Randnotizen in McCulloughs Path Between The Seas gemacht, daß außer dir jetzt keiner mehr das Buch lesen kann?«
Harrys Augen leuchten auf – gekünstelt. »O ja, sicher, da hast du recht, Lou. Wie klug du das bemerkt hast. Ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich mir einige von den alten Stichen vergrößern lassen sollte; die würden dem Clubraum etwas mehr Kanalatmosphäre verleihen, besonders wenn ich dazu noch ein paar Kunstgegenstände finden könnte.«
»Harry, du hast immer gesagt, und da stimme ich dir zu, daß sich die Panamaer mit wenigen löblichen Ausnahmen wie Ernesto Delgado gar nichts aus dem Kanal machen. Sie haben ihn nicht gebaut. Sondern wir. Sie haben nicht einmal die Arbeitskräfte gestellt. Die sind aus China und Afrika und Madagaskar gekommen, aus Indien und aus der Karibik. Und Ernesto ist ein guter Mann.«
Gott, dachte sie. Warum rede ich so? Warum bin ich so eine streitsüchtige, fromme Xanthippe? Klar doch. Weil Emily eine Hure ist.
Sie saß, den Kopf in die Hände gestützt, an seinem Schreibtisch und bereute, daß sie die Schubladen aufgebrochen hatte, bereute, daß sie diese unglückliche weinende Frau angebrüllt hatte, bereute, daß sie wieder einmal schlecht von ihrer Schwester Emily gedacht hatte. So werde ich niemals mehr zu irgendwem reden, nahm sie sich vor. Ich werde mich niemals mehr an anderen Menschen abreagieren. Ich bin nicht meine blöde Mutter und auch nicht mein blöder Vater, und ich bin keine perfekte, fromme, gottesfürchtige Zonenhure. Und es tut mir sehr leid, daß ich unter Streß und Alkohol so weit gegangen bin, eine Mitsünderin zu beschimpfen, auch wenn sie Harrys Geliebte ist – und wenn sie’s ist, bringe ich sie um. In einer Schublade wühlend, die sie bis jetzt ausgelassen hatte, stieß sie auf ein weiteres unvollendetes Meisterwerk:
Andy , es wird Sie sehr freuen zu erfahren , daß unsere neue Abmachung bei allen Beteiligten , insbesondere bei den Damen , auf breiteste Zustimmung stößt . Da nun alles in meiner Hand bleibt , braucht L keine Gewissensbisse wegen des bösen Ernies zu haben , und auch die Familie als Ganzes ist weniger gefährdet , wenn wir beide das allein machen . Fortsetzung folgt im Laden .
Die kannst du haben, dachte Louisa in der Küche, wo sie sich noch einen für unterwegs genehmigte. Alkohol wirkte bei ihr nicht mehr, hatte sie festgestellt. Was aber wirkte, war der Gedanke an Andy alias Andrew Osnard, der, als sie dieses Fragment las, Sabina als Gegenstand ihrer Neugier plötzlich vom ersten Platz verdrängt
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