Der Schoepfer
Lóa, oder besser gesagt Ólöf, sie ist blond und wohnt in der Weststadt in Reykjavík«, sagte Sveinn. »Fünfunddreißig vielleicht, und natürlich hab ich mir die Autonummer nicht gemerkt. Ich war todmüde und hatte keinen Grund, ihr zu misstrauen. Sie schien kein besonderes Interesse an meinen Sachen zu haben.«
Sveinn zog seine Jacke aus, die ihn plötzlich einengte, und war genervt von seiner eigenen Ratlosigkeit. Vielleicht war es auch nur Erschöpfung. Seine Glieder waren immer noch schwer, obwohl er gut geschlafen hatte und schon wieder hungrig war.
»Zuerst habe ich natürlich überlegt, sie zu suchen«, fügte er hinzu. »Mir war nicht direkt klar, dass das eine hoffnungslose Idee ist. Wie soll ich das denn anstellen? Mit einem Messer durch die Weststadt laufen, überall anklopfen und ein Kreuz in die Tür ritzen, wenn ich mich davon überzeugt habe, dass da keine Ólöf wohnt?«
»Klar ist das möglich«, sagte Kjartan. »Keine Frage. Wir wohnen
schließlich nicht in einer Großstadt, hier helfen einem alle. Irgendjemand muss sie doch gesehen haben.«
Es war völlig offensichtlich, dass Kjartan Sveinn seine Hilfe aufzwingen würde, ob er nun wollte oder nicht. Sveinn wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte.
»Sie hat ihren Mantel vergessen«, sagte er und betastete seinen gefühllosen Finger. Es war, wie einen toten Gegenstand oder den Finger eines anderen Menschen anzufassen.
Kjartan setzte sich gespannt im Sessel auf. »Hast du in die Taschen geschaut?«
»Klar habe ich das, sie waren vollkommen leer, wie zu erwarten. Diebe lassen nur selten ihren Ausweis da, wenn sie was geklaut haben.«
»Wenn sie schon ihren Mantel dalässt, wäre ihr das durchaus zuzutrauen«, sagte Kjartan. »Was war es denn für einer?«
»Ein weißer Wollmantel mit hellgrünem Futter, was spielt das denn für eine Rolle?« Sveinn hatte plötzlich Mitleid mit dieser Lóa, an deren Aussehen er sich kaum noch erinnern konnte, außer, dass ihre Haarfarbe Honey-Golden-Susie war und ihr Gesicht ein bisschen an den Typ der Schwarzhaarigen erinnerte, die sie später gestohlen hatte. Vielleicht hatte sie sie ja deshalb geklaut. Fühlte er sich ihr etwa irgendwie verbunden? Wer kannte schon die Denkweise von Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs? Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Die Arme war ziemlich aufgewühlt. Gut möglich, dass sie die Puppe in ein paar Tagen zurückbringt, wenn sie sich wieder gefangen hat. Vielleicht entschuldigt sie sich dann auch.«
»Du solltest zumindest mit der Polizei reden und dir eine Kopie des Protokolls besorgen, damit du was von der Versicherung kriegst«, sagte Kjartan. »Und mal hören, was die Polizei zu dem Drohbrief sagt.«
»Ich bin nicht versichert und hab keine Lust, wegen einem schlechten Witz alle Leute verrückt zu machen.«
Kjartan starrte Sveinn mit einer Sorgenfalte zwischen den Augen an. »Du bist ja wirklich ein Schaf im Schafspelz.«
»Zumindest habe ich nicht nur billigen Fernsehtrash im Kopf wie andere«, sagte Sveinn, während er aufstand, und versuchte, seine Worte mit einem linkischen Grinsen zu entschärfen. Kjartan konnte fiese Bemerkungen ausgesprochen gut ertragen, aber das war wahrscheinlich das Letzte, was er hören wollte.
Sveinn machte sich mit der Wachsjacke unter dem Arm auf den Nachhauseweg. Die Wärme, das Licht, die knospenden Bäume, ein Flugzeug, das einen Kreidestreifen an den blauen Himmel malte – alles hatte es nur darauf abgesehen, auf seine Brust zu drücken und seine Gedanken aus den gewohnten Bahnen zu werfen. Ihm fehlte etwas, aber er wusste nicht, was. Nein, nicht noch mehr nervtötende sonnenvergoldete Hausdächer und glitzernde Meeresoberflächen, die ihn in Unruhe versetzten, sondern etwas anderes. Nicht mehr Kaffee, nicht mehr Bier, nicht mehr von irgendwas, das er aus der Realität oder aus der Fantasie kannte, sondern etwas, das er noch nie erlebt oder gedacht hatte. Etwas, das es vielleicht nicht gab.
Bei merkwürdigen Empfindungen gab es immer dieselbe unfehlbare Abhilfe: mehr zu arbeiten. Aber heute war er zu müde, um noch etwas zu tun. Er wusste, dass er durchdrehen würde, wenn er sich mehrere Tage lang ausruhte.
Gestern Abend war er in einem kritischen Zustand gewesen, ohne es zu merken. Jetzt hatte er den Eindruck, dass er kein Mensch, sondern ein Tier gewesen war, dass er eine Frau in einer brenzligen Situation zu sich eingeladen und nur daran gedacht hatte, welchen Nutzen sie ihm bringen
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