Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
Vom Netzwerk:
einmischten.
    »Aber trotzdem danke, mein Junge«, fügte er hinzu. »Wenn du zufällig auf ihren Namen und ihre Adresse stößt, kannst du mich ja anrufen.«
    Er hatte den Satz gerade beendet, als der enttäuschte Junge schon sein Handy zückte.
    »P-I-N-O-C-C-H-I-O«, buchstabierte er laut.
    »Wieso Pinocchio?«, fragte Sveinn.
    Der Junge schaute schnell auf, und Sveinn sah, dass er erschrocken war.
    »Geschickt«, dachte er, als es dem Jungen gelang, seine Verlegenheit in den Griff zu bekommen und beiläufig zu sagen: »Sie werden Pinocchio genannt, wussten Sie das nicht?«
    »Nein, wusste ich nicht«, sagte Sveinn und musste grinsen. »Wieso Pinocchio?«
    Der Junge zuckte mit den Achseln und sagte: »Sie wissen schon, Pinocchio, der Junge aus Holz. Äh, das ist nicht böse gemeint. Die meisten bekommen irgendwann Spitznamen, außer sie sind so uninteressant, dass die Leute gar nicht über sie reden. Machen Sie sich keine Gedanken darüber.«
    »Es wird mir schon nicht den Schlaf rauben.« Sveinn lachte schrill, benutzte das Lachen als Vorwand, um den Jungen wegzuschieben, und leierte über die Schulter seine Telefonnummer herunter, in Richtung des gebeugten, blonden Schopfes und des Daumens, der über den schwarzen Tasten zuckte.

VI
Samstagabend bis Sonntagmorgen
    Es war kurz vor Mitternacht, und Ína war eingeschlafen, erschöpft und sauber, nachdem sie geholfen hatte, die Küche aufzuräumen, und sich über eine Stunde im Badezimmer vergnügen durfte. Sie saßen am Esszimmertisch; Björg mit der dritten oder vierten Tasse Kaffee und Lóa auf bestem Wege, die Rotweinflasche zu leeren.
    »Also dann«, sagte Björg, stand auf, schaute mit wehmütigem Blick auf die orangeroten Reste der Nachtsonne, die den Sund und die Esja, an deren Hängen immer noch Schnee lag, vergoldeten. Sie öffnete das Fenster, die Kälte strömte herein und trug einen sanften Geruch von Erde und Tang mit sich.
    Lóa wollte unbedingt, dass Björg noch etwas wach blieb. Der Inhalt der Flasche ruhte schwer und sicher in ihrem Magen wie ein Schatz auf dem Boden einer Kiste und stachelte ihr Verlangen an, sich weiter unter die Oberfläche der Dinge zu reden.
    Björg, die vor ein paar Wochen bei ihrem Freund ausgezogen war, versuchte, eine Wohnung zu finden. Die Gier der Vermieter, die Verzweiflung der Wohnungssuchenden, die bereit waren, noch mehr zu zahlen, wenn die Miete ohnehin schon zu hoch war. Nun wohnte sie abwechselnd bei Lóa und bei ihrer Mutter und erging sich in Dankbarkeit, bis sie zugab, sich
selbst auf die Nerven zu gehen. Sie säße schon wieder auf der Straße, bis über beide Ohren verschuldet, oder zumindest bis zum Nabel, und alle außer Lóa hätten sie aufgegeben. Die Leute hätten keine Lust mehr, sich ihr ständiges Gejammer über ihr Unglück anzuhören, das sich endlos wiederholte, immer wieder.
    »Es muss wohl ein Wunder geschehen, damit meine Mutter und du mich irgendwann loswerdet«, hatte sie gesagt und müde gelacht. Und jetzt stand sie am offenen Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Schwieg und schaute hinaus.
    »Warte mal, bin gleich zurück«, sagte Lóa und spürte ihre schweren Glieder, als sie aufstand. Erstaunlicherweise ohne zu schwanken, ging sie in den dunklen Flur, der sie an einen anderen Flur erinnerte, in dem sie vor hundert Jahren oder lediglich in ihrer Fantasie gewesen war. Dort hatte sie sich auf der Suche nach dem Badezimmer vorwärts getastet und stattdessen etwas ganz anderes gefunden. Einen fremden Männerhintern auf einer harten Bettkante, eine Puppenwerkstatt und ein dunkelhaariges Teufelsweib, das sie, ohne auch nur ein Wort zu sagen, zur Verbrecherin gemacht hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken.
    Sie klopfte sanft mit dem Fingerknöchel an die Tür und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten.
    Margrét hatte die Verdunkelungsvorhänge zugezogen, lag ganz hinten im Bett auf dem Rücken, direkt an der Wand, und ihre Augen, merkwürdig wach in ihrem schlaffen, welken Körper, verfolgten Lóas Bewegungen. Das einzige Licht kam von dem großen Wecker mit den leuchtenden Digitalziffern und, wie es schien, vom Weiß in Margréts Augen – dem weißesten Weiß, das Lóa je gesehen hatte, außer vielleicht bei ganz kleinen Kindern.

    Als Margrét ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war das Weiß sonderbar gelb gewesen, was nach Aussage der Ärztin von der verminderten Lebertätigkeit herrührte – aber jetzt war es wieder strahlend weiß. Das musste ein gutes Zeichen sein.
    Die Puppe saß

Weitere Kostenlose Bücher