Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
wird, nicht als ihr Vormund. Mütter und Töchter mit verschiedenen Nachnamen sind ja heutzutage nicht mehr so ungewöhnlich.«
»Haben Sie der Polizei etwas vom Anruf des Vaters gesagt?«
»Ja, das habe ich.«
Radick, der sich Notizen machte, schaute zu Carlisle auf.
Dieser schien zu realisieren, dass er es mit etwas Unheilvollerem zu tun hatte als mit einer vermissten Schülerin.
»Am Dienstag kam sie nicht zur Schule, weil sie bereits tot war«, erklärte Parrish in sachlichem Ton. »Wir können nur vermuten, dass ihr Mörder angerufen und sich als ihr Vater ausgegeben hat, um Zeit zu gewinnen, bevor ihr Verschwinden für größeres Aufsehen sorgte.«
»Tot?«, wiederholte Carlisle. »Oh, mein Gott …«
»Sie starb am Montag«, präzisierte Parrish.
»Oh, mein Gott …«
»Und derjenige, der am Dienstag anrief und sich als ihr Vater ausgab, war sicher nicht ihr Vater«, sagte Radick. »Wir müssen wissen, mit welchem Beamten bei welchem Revier Sie gesprochen haben.«
»Ja … ähm … natürlich. Oh, das ist schrecklich. Das ist wirklich schrecklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Es gibt nicht viel, was Sie sagen können , Mr Carlisle. Aber der Name des Polizeibeamten, mit dem Sie gesprochen haben, wäre wirklich sehr hilfreich.«
»Ja … ich glaube, er hieß Trevitt. Ich kümmere mich sofort darum.«
»Also verlässt sie das Haus – wann? – um sieben Uhr am Montagmorgen? Sie kommt nach Brooklyn. Und irgendwann zwischen acht und vierzehn Uhr stirbt sie. Das ist ein verhältnismäßig knapper Zeitraum.«
»Der ihr aber trotzdem genug Spielraum ließ, sich die Haare zu schneiden und die Nägel zu lackieren. Oder wahrscheinlicher: sich die Haare schneiden und die Nägel lackieren zu lassen. Was an einem speziellen Ort geschehen sein muss.«
»Und der Bruder?«
Parrish schüttelte den Kopf. »Er muss irgendwas damit zu tun gehabt haben, sonst wäre es ein allzu unwahrscheinlicher Zufall.«
»Alles reichlich merkwürdig«, stellte Radick fest.
»Nun, wir haben ein paar Fragen an Sergeant Gary Trevitt«, sagte Parrish und stieg aus dem Wagen.
Das 91ste Revier in Williamsburg war in einem ebenso wenig bemerkenswerten Gebäude untergebracht wie tausend andere Polizeireviere. Radick und Parrish warteten gut zwanzig Minuten am Empfang, bis Trevitt die Treppe herunterkam. Er wirkte schon misstrauisch, ehe sie sich überhaupt vorgestellt hatten. Vielleicht dachte er, sie gehörten zur Abteilung für Interne Ermittlungen.
»Wer?«, fragte er.
»Rebecca Lange. Sechzehn Jahre alt. St. Francis of Assisi Highschool. Der Direktor rief Sie am Dienstag an, ein gewisser David Carlisle.«
»Genau, und auch der Vormund des Mädchens«, erwiderte Trevitt.
»Und Sie erklärten der Frau, sie müsse achtundvierzig Stunden warten.«
»Natürlich. Das ist das übliche Vorgehen.«
»Aber dann meldete sie sich nicht wieder.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, erklärte Trevitt. »Ich war gestern nicht im Dienst. Ist das Mädchen schon aufgetaucht?«
»Ja«, sagte Parrish. »Sie ist tot wiederaufgetaucht.«
»Oh, Scheiße«, erwiderte Trevitt. »Und ihr beide kommt von woher?«
»Brooklyn.«
»Und was, zum Teufel, habt ihr damit zu tun?«
»Sie wurde in unserer Gegend umgebracht. Ihr Bruder übrigens auch.«
»Nun, es tut mir leid, das zu hören«, sagte Trevitt. »Braucht ihr irgendwas von mir?«
»Nein«, erklärte Parrish. »Wir sind hier fertig.«
Radick fuhr sie zurück nach Brooklyn. Der Regen hatte sich weitgehend ausgetobt. Die Straßen waren feucht und schmierig.
»Wenn der Bruder nicht auch ermordet worden wäre, würde ich sofort von einer Entführung ausgehen«, sagte Parrish.
»Aber in Kombination mit dem Bruder …«
»Läuft es darauf hinaus, dass sie in irgendwas drinhingen. Und wenn Danny Lange noch derjenige war, den ich kannte, muss es um Geld oder Drogen gegangen sein. Vielleicht hat er die Schwester irgendwie benutzt. Etwas geht schief, sie kommt ums Leben, und er macht die Fliege. Doch der Täter stöbert ihn auf, und alles ist aus.«
»Aber das ist bisher blanke Theorie.«
»So ist es doch immer, mein Freund«, erwiderte Parrish. »So ist es immer.«
14
Später, nachdem sie mehrere Stunden damit verbracht hatten, den Fall von allen Seiten durchzusprechen, schickte Parrish Radick nach Hause. Er selbst nahm die U-Bahn zu seiner Wohnung. Als er ankam, rief er bei Eve an, erreichte aber nur ihre Mailbox. Das bedeutete, dass sie einen Kunden hatte.
Bis einundzwanzig Uhr
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