Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Weile im Auge zu behalten. Die Toten zumindest erschienen wichtig. Und die Ausreißer? Nun, auch sie konnten tot sein; einstweilen aber galten sie noch als lebendig, zumindest auf dem Papier.
Um halb sieben Uhr saß Parrish in einer Ecknische in Clay’s Tavern. Seine Gedanken kreisten um Caitlin. Er wusste, dass es keinen Grund gab, sich mehr um ihr Wohlergehen zu sorgen als an jedem anderen Tag, doch waren die Fotos, die er gesehen hatte, verstörend genug, um seine Sorgen zu verschlimmern. Caitlin wies jeden kleinen Versuch seinerseits zurück, ihr Ratschläge zu erteilen oder sich in ihr Leben einzumischen, und er musste lernen, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Er musste sie loslassen. Sie war alt genug, entweder selbst zu schwimmen oder unterzugehen.
Über seinen Sohn machte Parrish sich nicht annähernd so viele Gedanken. Bei Robert war es anders, wie immer, wenn es um Söhne ging. Robert stellte ihn infrage, stritt, diskutierte und brachte seine Themen auf den Tisch. Parrish hatte Robert sogar von Eve erzählt, und Robert fand es obercool , dass sein Bullenvater ein Verhältnis mit einer Nutte unterhielt. Sowohl Robert als auch Caitlin besaßen einen Schlüssel zu seiner Wohnung, aber Robert war der Einzige, der jemals unangekündigt und unerwartet auftauchte. Frank war sich bewusst, dass sein Sohn eher zu einer Nach-mir-die Sintflut-Haltung neigte als seine Tochter. Trotzdem hatte er sich bei Robert niemals Sorgen um sein körperliches Wohlergehen und seine Sicherheit gemacht. Aber Caitlin …
Parrish ließ den Gedanken fallen. Caitlin ging es gut, beruhigte er sich. Es war bloß sein Fall, der ihm an die Nieren ging. Die Fotos, die Gedanken an tote Mädchen in Motelzimmern, in Treppenhäusern, Mädchen mit Würgemalen am Hals …
Er bestellte einen weiteren Drink. Das Geld, das er Danny Lange abgenommen hatte, brannte ein Loch in seine Tasche. Er hatte vergessen, es loszuwerden, und würde ein Stück zurück in die Richtung gehen müssen, aus der er gekommen war, um es abzugeben, ehe er am Abend nach Hause ging.
Eine Stunde später leistete ihm ein Stammgast Gesellschaft – Ex-Polizei-Lieutenant Victor Merrett, alte Schule, alte Zeiten, ein echter Veteran. Er setzte sich zu Frank, und sie redeten eine Weile über nichts Besonderes, bis Merrett Franks Vater erwähnte.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Frank«, sagte Merrett. »Und ich will nicht respektlos gegenüber seinem Andenken erscheinen, aber ich kam nie wirklich klar mit deinem Vater.«
»Na ja, Victor, ich kann dir sagen, dass zwischen dem, was die Leute in ihm sahen, und dem, wie er wirklich war … Verdammt, lass uns besser nicht darüber reden, hm?«
»Versteh mich nicht falsch, Frank, ich will nicht sagen, dass er kein guter Cop war. Er hätte nicht besser sein können.«
Parrish lächelte ironisch. »Standest du auch auf der Liste, Victor? Hast du jemals auf der Liste gestanden?«
»Auf der Liste?«
»Ob du von den Leuten meines Vaters bezahlt worden bist, du verstehst doch?«
Merrett runzelte die Stirn. »Was, zum Teufel, redest du da, Frank? Was ist das für eine Frage?«
»Eine einfache Frage, Victor. Eine verdammt einfache Frage. Kannst du eine einfache Frage nicht beantworten?«
»Du bist betrunken, Frank. Himmel, ich komme, um ein bisschen zu quatschen, sage Hallo, wie geht’s, und du kommst mir mit dieser Scheiße. Was, zum Teufel, ist los mit dir?«
»Nichts ist los mit mir, Victor. Aber mit einem Haufen anderer Leute stimmt etwas nicht, und ich frage mich, ob du dazugehörst.«
Merrett erhob sich. Er schaute auf Frank hinunter und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du solltest nach Hause gehen«, sagte er. »Schlaf dich gründlich aus, dann geht’s dir wieder besser.«
Parrish beugte sich vor und griff nach seinem Glas. »Nun, bevor du gehst, Victor, möchte ich dir etwas über meinen Vater erzählen. Die Einzigen, mit denen er wirklich klarkam, waren diejenigen, die Geld von ihm nahmen, die mit ihm Geschäfte machten, verstehst du? Wenn du nicht auf seiner Seite warst, dann warst du ein Feind.«
»Aber sein Ruf …«
»Scheiß auf seinen Ruf, Victor. John Parrish war ein Schurke, wie er im Buche steht, und das ist die Wahrheit.«
Merrett wirkte beunruhigt. »Ich denke, du solltest so was nicht zu laut sagen, vor allem in deinem augenblicklichen Zustand.«
»Warum? Warum soll ich nicht sagen, was ich zu sagen habe? Es ist die Wahrheit, Victor, die beschissene Wahrheit. Er war genauso ein Gauner wie die anderen. Er
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