Der Schritt hinueber - Roman
Schilfzunge!
Plötzlich merkte Axel, daß zwar alles noch vorhanden war, er es aber nicht mehr in der alten Weise bedenken konnte. Das Wollgras, ja! aber es sah so aus als ob es vom vorigen Jahr wäre; ist es wirklich von jetzt und wächst noch und ist nicht bloß übriggeblieben? Und drainieren, – wer wird denn hier drainieren, wie soll man Röhren beschaffen; und der Borkenkäfer, – ich werde es dem Bemelman sagen. Vor drei Tagen noch wäre Axel sofort zu Bemelman gerannt, der stahl doch immer Holz – der wußte, was los war im Wald, und auch, ob es Borkenkäfer gab, wußte er längst, – und vielleicht konnte dann Fini etwas veranlassen bei dem Kommando am Gutshof, Susanna mußte es ihr sagen. Und eben damit war Axel bei dem Punkt, der ihm alles veränderte: Susanna, ja, das schnitt ihn wie mit einer dünnen Saite von allem ab, was er sah und dachte.
Er war ganz getrennt von den Dingen, Schilf, Wollgras und Tümpel; es war eine Welt, die ohne ihn lebte, hingestellte Stücke, eine Postkarten-Ansicht wie seine Ansicht dort unten von der Mühle die Schlucht entlang, nur seine Gedanken, losgelöst, von Gewohnheit erzeugt, nicht seine eigentlichen Blicke gingen über sie hin: dort in der Wiese schlängelte sich der Wassergraben, dort lag auch statt einer Brücke das Brett, über das er nachts mit dem Rad vom Bemelmanhof herunter beinahe gestürzt wäre, – an diesen Augenblick heftete sich seine Erinnerung, damals hatte es angefangen – die Wiese vom Mond erhellt, und das Brett, auf das er zugesteuert war mit dem Rad. Seither setzten sich ihm die Augenblicke zusammen aus eifersüchtigen, hämmernden, bohrenden Herzschlägen: was ist wahr? Und sie fraßen ihm weg, was ihm vor Augen lebte: das war ihm alles ein unverständlicher äußerer Umriß geworden, der sich ihm früher einmal eingeprägt hatte; jetzt prägte sich ihm nur die eine Frage ein, und er dachte: damals hat es begonnen.
Er wunderte sich gar nicht, als er plötzlich Kolja erblickte: zuerst das Brett über dem Wasserlauf und dann, wo der Graben den Hang herunterkam, Kolja zu Pferd, im Schritt tauchte er unter den Obstbäumen hervor. Er zog seinen Kreis und er mußte nun wohl auch über den Graben. Axel erwartete, daß Kolja den Graben überspringen werde. Aber Kolja ließ den Schimmel gehen, wie er wollte. Er saß wie ein Sack, die Hufe verhielten vor dem Brett, dann glitschten sie im Graben, schlugen dumpfer auf die Erde, und nun konnte Axel Koljas Gesicht sehen, das weiße, das er schon kannte, – die Mütze, die weißen Brauen, ein verschwitztes Gesicht. Das Pferd kam nahe, es strebte zum Tümpel, am Rande blieb es stehen und trank.
Axel saß oben auf dem Hochstand, von Zweigen gedeckt, er rührte sich nicht. Er sah unten den Mann, – Stiefel, Schenkel, Bluse, die Pistole im Gürtel, den Zügel in der schrammigen Faust. Der Mann blickte nicht auf, also sah Axel wie zuvor nur die weißlichen Brauen und die Schweißtropfen an der Wange. Der Tag war nicht sehr warm, und Axel sagte sich, daß dieser Schweißausbruch des Reiters, der im Schritt dahergetrottet war, weder von der Hitze kam noch von der Bewegung, sondern wahrscheinlich vom Trinken. Er fragte sich, ob der Mann betrunken war, ob er überhaupt etwas sah, und ob er wußte, wo er war, oder ob er einfach so dahinritt?
Nun schnaubte das Pferd und wendete und trat durch das raschelnde Laub vom Tümpel zurück auf den Weg. Es waren Herbstfäden in der Luft, sie glitzerten an der Stelle, an der Kolja in den Wald eintrat, und dort verschwand er. Eine Weile noch hörte Axel die Hufschläge auf dem Karrenweg, der quer durch den Wald gegen das Dorf zu führte. Dann war er allein, er sah auf den Tümpel, sah die Huftritte, in denen Wasser einsickerte, und in ihm selber sickerte die Flutwelle wieder zurück in das Gleichmaß seiner Herzschläge, – nun blieb ihm davon eine Empfindung: hier war die Wahrheit vorbeigegangen.
Es war noch immer Fieber in dieser Empfindung, als sei Kolja ein Mann, der mit der Wahrheit herumritt wie mit einem Gegenstand, einer Pille oder einem Losungswort. Axel hatte ihm nicht geradezu aufgelauert, aber jetzt, da er ihn erblickt hatte, wußte er, daß er selber am Waldrand nur darauf gewartet hatte, und fortan immer trachten werde, ihm zu begegnen, und einmal würde ihn Kolja auch anblicken und ihm die Wahrheit zu fressen geben, ja oder nein, und dann würde er Ruhe haben.
Aber Kolja suchte selber die Wahrheit. Er kam, wie schon am Tage zuvor, vom Bemelmanhof, dort
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