Der schüchterne Junggeselle
das Dach zu gehen, kannst du durch das Wohnzimmerfenster hineinschauen und ihn dir selber ansehen. Er wartet dort auf einen Whisky-Soda, den ich ihm bringen soll. Zum Zurückkommen habe ich deshalb so lange gebraucht, weil es zehn Minuten gedauert hat, bis er nach meinem Namen gefragt hat. So lange hat er bloß gestottert.«
»Schön. Führ mich auf das Dach.«
»Bitte!« sagte Mullett einen Augenblick später. »Jetzt wirst du mir vielleicht glauben.«
Durch die Fenster des Wohnzimmers war unleugbar ein Mann, der der Schilderung entsprach, zu sehen. Fanny empfand Reue.
»Ich habe also meinem armen guten Freddy unrecht getan?« fragte sie.
»Ja, das hast du getan.«
»Das tut mir aber leid. Na!«
Sie küßte ihn. Mullett zerschmolz augenblicklich. »Ich muß diesen Whisky holen«, sagte er.
»Ich muß gleich gehen.«
»Ach nein«, bat Mullett.
»Doch, ich muß. Ich habe noch ein oder zwei Läden zu erledigen.«
»Fanny!«
»Na, man muß doch seine Aussteuer zusammenkriegen, nicht?«
Mullett seufzte. »Du wirst doch vorsichtig sein, mein Herz?« fragte er besorgt.
»Ich bin immer vorsichtig. Mach dir keine Sorgen um mich.«
Mullett zog sich zurück, und Fanny verschwand, ihm mit ihren hübschen Fingern einen Abschiedskuß zuwerfend, durch die Treppenhaustür.
Etwa fünf Minuten später, als Mullett in goldene Träume versenkt in der Küche saß und Sigsbee H. Waddington im Wohnzimmer seinen Whisky-Soda trank, ließ ein plötzliches Scharren an der Glastür diesen aufspringen und einen guten Teil seines Getränks auf die Weste schütten. Er blickte auf. Vor der Tür stand ein Mädchen, aus deren Bewegungen er schloß, daß sie eingelassen zu werden wünschte.
5
Es dauerte einige Zeit, bis Sigsbee H. Waddington es über sich vermochte, das zu tun. Zweifellos gibt es ruchlose Ehemänner, welche bei der Aussicht auf ein Tête-à-tête mit einem schwarzäugigen Mädchen vor Freude gesprungen wären, doch Sigsbee Waddington gehörte nicht zu ihnen. Natur und Erfahrung hatten ihn einigermaßen vorsichtig gemacht. Er blieb also eine Weile stehen und starrte Fanny an. Erst als ihre Blicke so gebieterisch wurden, daß man sie hypnotisch nennen konnte, entschloß er sich, die Tür zu öffnen.
»Es war aber auch Zeit«, sagte Fanny geärgert, während sie leise in das Zimmer trat.
»Was wünschen Sie?«
»Ich wünsche eine kleine Unterredung mit Ihnen. Was soll das bedeuten, daß Sie zur Ausführung von Verbrechen auffordern?«
Sigsbee Waddingtons Gewissen war bereits in eine so böse Verfassung geraten, daß diese Worte auf ihn wirkten wie die Explosion eines Pfundes Dynamit. Seine lebhafte Phantasie bildete ihm augenblicklich ein, dieses mit seinen Privataffären so vertraute Mädchen sei eine jener Agentinnen des Geheimdienstes, deren Tätigkeit so viele Amateurverbrecher der Ruhe beraubt. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, krächzte er.
»Ach Quatsch!« rief Fanny ungeduldig. Sie war eine Geschäftsfrau und haßte alles lange Hin und Her. »Freddy Mullett hat mir alles erzählt. Sie brauchen jemand für eine Arbeit, und er hat Sie abfahren lassen. Also, probieren Sie es mal mit der zweiten Besetzung. Wenn die Arbeit in mein Gebiet schlägt, los damit.«
Mr. Waddington maß sie noch immer mißtrauisch. Er war jetzt zur Ansicht gekommen, daß sie ihn zu einem gefährlichen Geständnis verleiten wollte.
Fanny, die ein empfindliches Mädchen war, verstand sein Schweigen falsch. Sie glaubte in seinen Augen Mißtrauen gegen die Fähigkeiten ihres Geschlechts zu lesen.
»Wenn es etwas ist, was Freddy Mullett machen könnte, kann ich es auch«, sagte sie. »Passen Sie gut auf!«
Mit ihren zierlichen Fingern hielt sie eine Uhr samt Kette vor Mr. Waddingtons verblüffte Augen.
»Was ist das?« keuchte er.
»Wie sieht es aus?«
Mr. Waddington wußte recht gut, wie es aussah. Er griff verwirrt in seine Westentasche.
»Ich habe nicht gesehen, wie Sie sie genommen haben.«
»Man sieht mich nie etwas nehmen«, erwiderte Fanny stolz. »Also, jetzt, wo Sie die praktische Demonstration gesehen haben, werden Sie mir vielleicht glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich es auch kann.«
Sigsbee H. Waddington sah ein, daß er seinem Gast unrecht getan hatte. Sie war also doch keine Detektivin, sondern eine süße, weibliche Frau, die ihren Mitmenschen die Taschen so geschickt leerte, daß man nichts davon merkte. Gerade, was er gesucht hatte. »Ich bin überzeugt davon, daß Sie es können«, sagte er
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