Der schwarze Kanal
Abiturienten nach der ersten Anhörung sogleich bescheinigte. Das Problem ist eine Justiz, die weitgehend von Strafen absieht, die von den Tätern und, vielleicht wichtiger noch, auch den Opfern als solche empfunden werden.
Wer heute seiner Gewaltneigung freien Lauf lässt, wobei die Anlässe meist völlig nichtig sind, kann darauf vertrauen, dass sein Leben keine empfindliche Störung durch den Sanktionsapparat erfährt. Selbst in Fällen, in denen der Tod oder zumindest eine schwere Behinderung des Zufallsopfers in Kauf genommen wird, steht am Ende in der Regel eine Bewährungsstrafe, verbunden mit der Auflage, einige Stunden in einem Altenheim soziale Dienste zu verrichten oder beim örtlichen Gartenamt auszuhelfen.
Wir haben uns angewöhnt, Strafe als pädagogische Maßnahme zu sehen. Weil im Vordergrund des modernen Strafrechts, wie es sich nach 1969 durchgesetzt hat, die Resozialisierung, also Besserung des Übeltäters, steht, misstrauen die Experten dem Gefängnis, das ja von seinem Wesen her noch immer weniger Therapie- denn Strafanstalt ist. So laufen alle Argumente gegen einen «Warnschussarrest», wie ihn die Bundesregierung als Reaktion auf den Berliner Vorfall durchsetzen wollte, auch darauf hinaus, die sozialpädagogisch bedenklichen Wirkungen des kurzfristigen Freiheitsentzuges herauszustellen. «Wenn jugendliche Gewalttäter ins Gefängnis müssen, kommen sie meistens nicht besser raus», erklärte der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele folgerichtig die Ablehnung seiner Partei.
In den Hintergrund getreten ist dabei die Idee, dass Strafe Gewalt ist, ja ursprünglich auch sein soll. Sie vergilt das Übel grob asozialen Verhaltens mit einem anderen Übel. Oder wie es bei Karl Binding, einem der Hauptvertreter der bis 1969 gültigen Gerechtigkeitstheorie, heißt: «Der Zweck der Strafe kann also nicht sein, den Rebellen gegen die Rechtsordnung in einen braven Bürger zu verwandeln … (Die Strafe soll) nicht heilen, sondern dem Sträfling eine Wunde schlagen.» Vor allem bei den Opfern von Straftaten und ihren Angehörigen überwiegt allen Strafrechtsreformen zum Trotz der Wunsch, den Täter leiden zu sehen für das, was er ihnen angetan hat. Sie erwarten von den Vollzugsorganen, ihnen eine Genugtuung zu verschaffen, die sie sich selber nicht verschaffen dürfen. Ganz unberechtigt ist diese Erwartung nicht: Das Gewaltmonopol des Staates gründet schließlich ganz wesentlich auf dem Versprechen, im Schadensfall nicht nur Appellationsstelle, sondern auch Satisfaktionsinstanz zu sein.
Selbst aufgeklärten Menschen kommen mitunter Zweifel, ob wir es mit dem Verständnis für die Täter nicht zu weit getrieben haben – das gilt spätestens, wenn sie selber zum Opfer einer Gewalttat geworden sind. In einer beeindruckenden Reportage hat die «Zeit»-Redakteurin Susanne Leinemann über einen Überfall berichtet, der sie nur knapp mit dem Leben davonkommen ließ. Drei jugendliche Schläger hatten ihr auf dem Nachhauseweg aufgelauert und sie mit der Sprosse eines Treppengeländers so zugerichtet, dass sie sich in einer Blutlache wiederfand. «Dabei sind alle drei das Produkt von lauter gut gemeinten Absichten – einer weitverzweigten Sozial- und Therapieindustrie, von Sozialpädagogen, Psychotherapeuten, Erziehern, Angestellten der Jugendämter», wie Leinemann anschließend schrieb. «Wenn ich ihre Geschichte erzähle, dann weil ich am eigenen Leib erfahren musste, dass im weiten, von der Öffentlichkeit blickdicht abgeschotteten Feld der Heimerziehung und Intensivpädagogik etwas furchtbar schiefläuft.»
Man kann nur froh sein, dass sich der Vergeltungswunsch derer, denen der Staat keine Satisfaktion mehr gewährt, nicht öfter außerhalb der vorgeschriebenen Verfahrenswege Bahn bricht. Der Rechtsfriede hält auch deshalb, weil der Staat auf die Aggressionshemmung der Geschädigten vertrauen kann, die sich schon beim ersten Mal nicht wehren konnten. Es ist die Gesetzestreue, die den braven Bürger von seinem Peiniger unterscheidet. Wie die Dinge liegen, setzt sie ihn im modernen Strafverfahren ein zweites Mal in Nachteil.
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