Der Schwarze Mandarin
einem Westeuropäer gebratene Fischköpfe vorsetzt? Oder gesottene Kalbsaugen?«
»Unmöglich. Das Lokal würde sofort Pleite machen.«
»Also – was lernst du daraus? Um Wurzeln zu schlagen, mußt du die Erde, die dich nährt, akzeptieren.« Min Ju scheffelte noch eine Portion Reis in seine Porzellanschale. »Du mußt noch viel lernen, ehe du ein Familienmitglied wirst.«
»Das werde ich nie!«
»Du bist es schon! Mit dem, was du bereits weißt, bist du unlösbar mit der ›Familie‹ in München verbunden. Nach der Prüfung und deinem Eid wirst du in den ›Bund der Hong‹ aufgenommen, der Drachengesellschaft, und wirst den Familiennamen Hong annehmen. Du wirst bereit sein, dich wie ein Bruder um die anderen Mitglieder zu kümmern, ihr werdet euch gegenseitig helfen, einander schützen und mit ganzer Kraft und festem Willen bis zum Letzten unterstützen, wie leibliche Brüder es tun würden! Das wird ein Teil deines Schwurs sein – die ›Familie‹ ist eine unauflösliche Lebensgemeinschaft, die dir Schutz und Fürsorge bis zum Lebensende garantiert. Dir und Wang Liyun! Dafür erwartet dein ›Großer Bruder‹, der große Boß, den wir Gao Lao nennen, bedingungslosen Gehorsam und absolute Loyalität von dir! Verläßt du dieses Prinzip …«
»… muß ich sterben!« ergänzte Rathenow heiser.
»Zuerst Wang Liyun. Das ist für dich schlimmer als der eigene Tod.« Min Ju goß eine braune, scharfe Sojasoße über seinen Reis, hob die Schale auf und schaufelte den Inhalt in den Mund. »Du trinkst ja gar nichts.«
»Mein Magen macht nicht mehr mit.«
»Schmeckt dir der Wein nicht?« Min Ju lachte kurz auf. Er stellte die Reisschale weg und fuhr sich wieder mit der Serviette über den Mund. »Kennst du die Geschichte der Triaden? Weißt du überhaupt, wer die Triaden sind?«
»Die brutalste Gangstervereinigung der Welt!«
»Irrtum.« Min Ju war weit davon entfernt, sich beleidigt zu fühlen. Er hatte keine andere Antwort erwartet. »So sehen es unsere Gegner. Man muß uns historisch sehen … es gab die Triaden – sie hießen damals nur anders, zum Beispiel ›Weißer Lotos‹ – schon in der Han-Dynastie, von 206 vor bis 220 nach Christi Geburt, wie ihr rechnet. Unsere Blütezeit in der Geschichte war die Ming-Dynastie – 1368 bis 1644 –, die wir verteidigten gegen alle fremden Einflüsse. Dann kam das Schicksalsjahr 1644. Die Ming-Dynastie ging unter im Ansturm eines tungusischen Volkes, und wieder kam eine nichtchinesische Dynastie auf den Drachenthron. Es waren die Mandschus, und sie nannten sich Ching-Dynastie. Bis 1911 herrschten sie über China. Für einen Han-Chinesen eine Schande – Barbaren, eine unter ihnen stehende Rasse, Fremde. Und mit dem Antritt der Mandschus wuchs auch unsere Aufgabe: Vertreibung der fremden Teufel und Einsetzen einer neuen Ming-Dynastie. Wir bekämpften alles, was fremd war – zuletzt auch die ›Weißen Teufel‹, die sich in China festsetzen wollten, und bis heute Mao Tse-tung und seine Erben! Aber das wirst du alles noch lernen, bevor du ein ›Hong‹ wirst. Gwei-Lo, die ›Fremden Teufel‹, waren immer das Ziel aller Geheimbünde.« Min Ju schob das Blumenarrangement etwas zur Seite, um Rathenow besser sehen zu können. »Was heißt Triade?« fragte er wie ein Lehrer seinen Schüler.
»Die ›Dreieinigkeit‹«, antwortete Rathenow. Er kam sich irgendwie willenlos vor. Die Erkenntnis, sein Ich aufgeben zu müssen, ließ eine völlige Leere bei ihm zurück.
»Triade ist ein Sammelname für viele Organisationen, die aber alle das gleiche Ziel haben und untereinander wie Brüder verkehren. Ein Name, der gebildet wird aus den Begriffen Himmel-Erde-Mensch, oder wie wir sagen: Tin Tei Wui. Triade – ›Drei in einem‹ –, das umfaßt das Firmament, den Boden, der uns nährt, und das Leben. Aber das wirst du alles noch lernen«, wiederholte er.
»Die Geschichte Chinas zu kennen, ist wie das Auswendiglernen von Goethes Gesamtwerk. Es ist unmöglich.«
»Du wirst einen wichtigen Teil lernen – die Geschichte der Triaden. Um stolz zu sein, ein ›Hong‹ zu werden.«
»Wie kann man stolz sein, ein Verbrecher zu sein?«
»Wer die Welt beherrscht, ist des Stolzes wert. Und wir werden eines Tages, vielleicht in kürzerer Zeit, als wir selbst glauben können, die Welt beherrschen. Wer will uns aufhalten? Nehmen wir nur Europa: In Holland leben über 70.000 Chinesen, die größte China-Town des Kontinents. 1911 wurde sie von arbeitslosen Kohlentrimmern und
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