Der Schwarze Mandarin
germanistischen Instituten der chinesischen Universitäten zur Pflichtlektüre zählten, um so zu erreichen, daß Liyun ihr Visum möglichst schnell bekam.
Noch am Abend setzte sich Rathenow an seine Schreibmaschine und schrieb den Antrag und die Begründung. Er schrieb auch an das Kultusministerium Chinas in Beijing und legte Fotokopien der Schutzumschläge seiner chinesischen Bücher bei und einige Artikel, die in chinesischen Zeitungen über ihn erschienen waren. Das müßte reichen, dachte er. Da das Postamt bereits geschlossen hatte, fuhr er zum Hauptbahnhof und gab die Briefe per Eilboten und Einschreiben auf. Ein Sonderschalter der Bahnpost war noch offen.
Zurück in Grünwald rief er Dr. Freiburg an.
»Eine Neuigkeit!« sagte er mit der Fröhlichkeit, die ein Mensch in sich spürt, wenn er glaubt, etwas Gutes getan zu haben.
»Deiner jubelnden Stimme nach hat ein schönes Weib seinen Rock hochgehoben …«
»Irrtum, du Ferkel! Ich werde Liyun kommen lassen.«
»Noch ist sie nicht hier. Du hast die Anträge wirklich gestellt?«
»Ja, und vorhin weggeschickt.«
»Und darauf bist du stolz?«
»Nein! Ich bin voller Lebenslust. Liyun hat ein Fax geschickt … sie freut sich auf ihr Kommen.«
»Wundert dich das? Ein Mao-Mädchen kann plötzlich auf fremde Kosten in das Wunderreich der Kapitalisten. Wer freut sich da nicht?«
»Erstens ist Liyun kein Mao-Mädchen – Mao ist längst tot –, und zweitens kommt sie nicht zu Kapitalisten, sondern zu mir!«
»Ist da ein Unterschied? Vom Bauernkittel zu Dior-Modellen!«
»Liyun hat nie einen Bauernkittel getragen. Und wenn – ist das eine Schande? Zerreiß dir jetzt nicht den Mund über den chinesischen Kommunismus! Für unsere Politiker in Bonn ist China der Markt der Zukunft. Das in China angelaufene Wirtschaftswunder verspricht Milliardengeschäfte für unsere Industrie. Um China werden sich die Weltmächte noch reißen! Und – um mit deinen Worten zu sprechen – es wird bald auch in China Dior-Kleider geben.«
»Gewiß. Für die Bonzen! Nicht für die Bauern am Gelben Fluß.«
»Trägt man bei uns in den Dörfern Niederbayerns etwa Dior-Modelle?«
»Warum sollten wir diskutieren über Menschenrechtsverletzungen, Hinrichtungen, Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, chinesische Mafia und andere ›Beglückungen‹? Ausgerechnet du, der stramme Konservative! Da sieht man wieder, was eine Frau aus einem Menschen machen kann!«
»Du bist und bleibst ein Arsch!« schrie Rathenow ins Telefon.
»Das nennt man eben konservativ! Noch was?«
»Nein. Ich wollte dir nur meine Freude über Liyuns Fax mitteilen.«
»Ich höre, aber ich teile die Freude nicht mit dir. Du läufst in eine Falle! Du läßt dir das Messer in den Bauch rammen! Wenn diese Liyun erst mal hier ist, kommst du nicht mehr von ihr los.«
»Das kann ich schon jetzt nicht mehr! Ich denke nur noch an sie.«
Rathenow legte auf. Es hatte keinen Zweck, mit Freiburg über solche Dinge zu reden.
Was mache ich mit Min Ju? dachte Rathenow. Wie bringe ich ihm bei, daß Liyun nach München kommt? Er wird sofort reagieren und über Hongkong den Triaden in Kunming den Auftrag geben, diese Reise zu verhindern. Wenn es sein muß, mit Gewalt. Kewei Tuo würde alles tun, Liyun nicht nach Europa zu lassen. Nur: Welche Möglichkeit hat er, ohne die Geheimpolizei in Kunming zu alarmieren? Liyun und ihre Eltern würden sich natürlich bei der ersten Drohung an die Polizei wenden. Aber … Wie war es Kewei gelungen, Liyun nicht zum Flugplatz fahren zu lassen, um mich zu verabschieden? Auch das ist ihm ja gelungen. Warum sollte er nicht Liyuns Reise verhindern können?
Rathenow nahm sich vor zu schweigen, bis Liyun in München war. Dann war immer noch Zeit, in den offenen Kampf mit Min Ju zu treten. Dann hatte er auch die Möglichkeit, Liyun vor allen Angriffen zu beschützen. Schweigen und lächeln, das mußt du noch von den Chinesen lernen! Nur hast du nicht ihren ewig geheimnisvollen Blick. Deine Augen verraten zuviel, und Min Ju, dieser schwarze Drache, kann in ihnen alles lesen, was du denkst. Du mußt üben, deine Augen zu beherrschen. Du mußt blicken können wie ein Eisbär – ohne Regung im Blick, eiskalt. Aber kann man das lernen, als Weißer? Morgen hast du wieder ›Unterricht‹ im Keller von ›Der Schwarze Mandarin‹. Da mußt du schon einige der Handzeichen und Erkennungszeichen auswendig können. Wie deutet man an: Schutzgeld ist bezahlt? Wie erkennt man einen Triadenbruder am
Weitere Kostenlose Bücher