Der Schwarze Mandarin
das Glas in einem Zug. »Hast du auch noch einen vernünftigen Ratschlag? Als Arzt?«
»Ja. Sauf nicht zuviel in China! Sie sollen da einen höllischen Schnaps haben, Mao Tai heißt er. Laß die Finger davon! Denk an deine Durchblutungsstörungen.«
»Halt den Mund!« Rathenow stellte das Glas auf den Tisch. »Also … bis in fünf Wochen. Du wirst als Arzt nichts an mir auszusetzen haben.«
»Mach's gut, Hans.«
Dr. Freiburg umarmte seinen Freund.
Das war vor zwei Tagen gewesen. Jetzt saß Rathenow also in der L UFTHANSA -Senator-Lounge, las in einer Illustrierten, trank den zweiten Wodka mit Orangensaft und nickte dankbar, als die Lounge-Stewardeß ihm zwei Päckchen mit Keksen brachte. Sie war ein hübsches, kurvenreiches Geschöpf mit langen blonden Haaren.
»Wo fliegen Sie hin?« fragte sie.
»Mit der Dragon-Air nach Kunming.«
»Dann haben Sie noch über eine Stunde Zeit. Möchten Sie etwas essen?«
»Nein, danke. Ich esse nachher im Flugzeug.«
»Die chinesischen Fluglinien sind nicht berühmt für ihr Essen.«
»Ich weiß. Ich bin heute das drittemal in China. Um so besser werde ich in Kunming essen.«
Die Stewardeß entfernte sich wieder und setzte sich hinter die kleine Theke im Hintergrund der Lounge. Kunming … da möchte ich auch mal hin, dachte sie. Die Stadt des ewigen Frühlings. Ein Stück wirkliches China.
Rathenow knabberte die Plätzchen und lehnte sich zurück. Der Flug nach Hongkong war doch ein wenig anstrengend gewesen.
Verdammt, 58 Jahre sind doch kein Alter! Reiß dich zusammen, Hans. Man ist so jung, wie man sich fühlt, das ist eine alte Weisheit, und ich fühle mich im Vollbesitz meiner Kräfte.
Ich werde euch allen beweisen, wie unverwüstlich Hans Rathenow noch ist …
*
Das Büro des China International Travel Service (CITS) von Kunming liegt in der breiten, von Menschen wimmelnden Huan Cheng Nan Lu, einer Straße, die in die Altstadt führt, wo das Leben noch so abläuft wie vor hundert Jahren. Es ist ein großes Reisebüro mit über 120 Angestellten, die Touristen aus allen Ländern betreuen und deren Sprache sprechen. Englisch steht an erster Stelle, dann folgen Japanisch und Französisch, aber auch ein ›German Dept‹ hat man aufgebaut, um den Gästen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Schönheit von Yunnan zeigen und erklären zu können. Cai Qiang war der Chef der Deutschen Sektion. Er trug, wie 80 Prozent aller Stadtchinesen, eine Brille, war von schlanker, fast dürrer Gestalt und sprach ein vorzügliches Deutsch, das er auf der Fremdsprachenuniversität von Wuhan gelernt hatte. Seine Hauptaufgabe war es, die Reiserouten der Touristengruppen auszuarbeiten und die jeweiligen Reiseleiter zu bestimmen. Dann wurden die Pläne weitergegeben an das Marketing Dept., das für die Hotelunterkünfte und Restaurants sorgte und den genauen Zeitplan festlegte. Dadurch lief die China-Reise einer ausländischen Gruppe fast mit preußischer Disziplin und Pünktlichkeit ab. Es war der Stolz des Reisebüros, wenn man hinterher hörte: »Es hat alles vorzüglich geklappt!«
Cai Qiang hatte an diesem Morgen die Reiseleiterin Wang Liyun zu sich rufen lassen. Er saß hinter seinem mit Papieren überfüllten Schreibtisch und sah nur kurz auf, als Liyun ins Zimmer kam. Sie hatte erst gestern eine Schweizer Gruppe verabschiedet, die sich sehr großzügig zeigte – was selten war. Das in der Gruppe gesammelte Trinkgeld betrug 340 Yuan, das Monatsgehalt eines Arbeiters. Liyun war mit den Schweizern zwei Wochen unterwegs gewesen und hoffte nun auf zwei Tage Freizeit. Sie blickte ihren Chef erwartungsvoll an. Im stillen freute sie sich über die Möglichkeit, an einem der freien Abende tanzen zu gehen. Ihr Freund Shen Zhi, ein Journalist bei der Zeitung in Dali, wollte kommen. Da Liyun immer auf Reisen war, Shen Zhi andererseits nicht sehr oft frei harte, um nach Kunming zu fahren, sah man sich nur selten. Um miteinander zärtlich zu sein, mußte man hinaus zum Seepark fahren. Für den kommenden Freitag aber hatte Shen Zhi ein Zimmer besorgt; ein Freund war bereit, seine kleine Wohnung zur Verfügung zu stellen. »Aber nur von zwei bis fünf Uhr nachmittags!« hatte er zu Shen gesagt. »Ich gehe in der Zeit ins Kino. Mehr kannst du nicht von mir verlangen. Drei Stunden sind eine gute Zeit für die Liebe.«
»Ich habe hier einige Schreiben liegen, Liyun«, sagte Cai Qiang und sah sie an. »Von der Schweizer Gruppe. Sie war zufrieden mit dir. Sehr zufrieden. Andere
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