Der Schwarze Mandarin
Ethnologe, der auch erfolgreich Bücher geschrieben hat. Unsere Botschaft in Bonn hat sich an unser Außenministerium gewandt, das wiederum an das Kulturministerium und der Kulturminister an unsere CITS-Zentrale in Beijing (wie Peking auch genannt wird). In Beijing wurde auch der ganz individuelle Reiseplan ausgearbeitet und uns durchgefaxt. Hier ist er.« Cai schob Liyun die Plastikhülle über den Tisch. »Lies das, Liyun! Der Gast soll die beste Betreuung erfahren. Und die Beste bist du. Was kann ich anderes tun? Die kleinste Beschwerde in Beijing, und ich muß mich verantworten. Was das bedeutet, weißt du. Der Besuch ist eine Art Staatsangelegenheit. Nur du kannst das übernehmen.«
»Kang Sujie hat frei, Herr Cai.«
»Sujie! Ihr Deutsch ist gegen dein Deutsch nur ein Gestammel. Außerdem liegen in diesem Jahr schon drei Beschwerden gegen sie von Widerworte, politische Äußerungen und ein schamloser Flirt mit einem Reisenden. Ich werde sie bestrafen müssen: einen Monat keine Gruppenbetreuung, keine Prämien, nur das Grundgehalt, und sie muß schriftlich Selbstkritik üben und mir vorlegen.« Cai hob wie bedauernd beide Hände. »Du siehst, du mußt den VIP übernehmen. Du mußt mir helfen. Shen Zhi läuft dir nicht weg.«
»Ich werde ihn dann wieder einen Monat nicht sehen. Dann ist es fast ein Vierteljahr.«
»Sei froh darüber!« Cai lachte einmal kurz auf. »Wenn du später verheiratet bist, wirst du dich freuen, ihn mal eine Zeitlang nicht zu sehen. So ist das bei Ehepaaren, die immer zusammen sind.« Cai zeigte auf die Plastikhülle. »Sieh dir das durch.«
»Wann kommt er?«
»Donnerstag um 15 Uhr. Von Hongkong mit der Dragon-Air.«
»Und wie lange bleibt er?«
»Drei Wochen.«
Liyuns Gesicht wurde schmal vor Traurigkeit. »Und immer muß ich dabeisein?«
»Du wirst dem Gastgeber China Ehre machen, daran solltest du denken. Nicht an Zhi. In meinem Bericht nach Beijing werde ich dich lobend erwähnen, und du wirst eine gute Prämie bekommen.«
»Wie heißt er denn?« Liyun zog die Hülle vom Tisch und blickte auf das erste Blatt. »Rathenow. Dr. Hans Rathenow … der berühmte Ethnologe und Reiseschriftsteller?« fragte sie erstaunt.
»Du kennst ihn?«
»Wir haben auf der Universität im Deutsch-Seminar Auszüge aus seinem Buch ›Das Geheimnis der philippinischen Wunderheiler‹ gelesen. Handelt es sich um diesen Rathenow?«
»Der muß es wohl sein.« Cai hob die Schultern. »Wenn sich sogar die Minister darum kümmern.«
»Ich … ich habe Angst«, sagte Liyun mit kleiner Stimme.
»Du und Angst? Das wäre etwas Neues.«
»Ein so berühmter Mann! Wie spricht man ihn an? Wie benimmt er sich? Ist er arrogant, eitel, mürrisch, mit nichts zufrieden, meckert an allem herum?«
»Wer weiß das? Laß dich überraschen!«
»Berühmte Männer sind immer schwierig.« Liyun nahm die Plastikmappe an sich und drückte sie an ihre Brust. »Ich muß also …?«
»Ja. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Cai lächelte Liyun ermutigend zu. »Kopf hoch, Mädchen. Er wird dich nicht fressen. Also: Donnerstag, 15 Uhr, Flughafen. Und noch eins: Der Reiseplan ist endgültig. Keine Änderungen. Vor allem im Lande der Yi und Mosuo. Ich staune, daß Herr Rathenow es überhaupt betreten darf. Das wäre vor einem Jahr noch unmöglich gewesen. Viel Glück und Erfolg, Liyun.«
»Danke, Chef.«
Liyun verließ das Zimmer, ging hinüber in das Reiseleiter-Büro, setzte sich auf einen Plastikstuhl und begann, den Plan durchzulesen. Aber sie nahm kaum auf, was sie las. Ihre Gedanken waren beschäftigt mit Fragen. Was ist Hans Rathenow für ein Mensch? Soll ich ihm sagen, daß ich seine Bücher kenne? Wie alt ist er? Ist er noch kräftig genug, die vorgeschlagene Reise durchzustehen? Es wird eine schwere Tour werden. Oben bei den Mosuo gibt es kaum ausgebaute Wege. Die Dörfer liegen über 3.000 Meter hoch, der Lugu-See ist einer der schönsten, aber auch einsamsten Seen von Yunnan. Wird er das durchhalten? Ein Geburtsdatum steht nicht im Plan. Wenn er nun ein alter Mann ist, was kann ich tun, damit er so viel wie möglich sieht? Und wenn er nachher sagt: »Das habe ich mir alles anders vorgestellt!« ist das wie ein Tadel, der erste, den Herr Cai in meine Papiere schreiben muß.
Und je mehr sie darüber nachdachte, um so größer wurde die Angst in ihr und die Scheu vor diesem berühmten Mann.
Dann besann sich Liyun auf die uralten Charaktereigenschaften der Chinesen: Leiden ohne zu klagen. Das Schicksal in Demut
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