Der Schwarze Mandarin
Reiseleiter in anderen Provinzen waren nicht so gut. Besonders dein Deutsch haben sie gelobt und deine Fröhlichkeit. Ich bin stolz auf dich.«
»Danke, Herr Cai.« Liyun lächelte. Jetzt wird er mir gleich zwei Tage frei geben, dachte sie. Er ist sonst sehr geizig mit Lob, dafür um so großzügiger mit Tadel.
»Du bist die Beste der deutschen Sektion! Aber bilde dir darauf nichts ein. Ich habe es von dir erwartet.« Cai Qiang senkte den Blick, beschäftigte sich wieder mit den Papieren und zog aus dem Stapel ein paar Blätter heraus, die in einer dünnen Plastikhülle steckten. Liyun wartete auf weitere Worte. Das kann doch nicht alles sein, dachte sie. Daß sie die Beste der deutschen Sektion war, wußte sie. Schon beim Studium der Germanistik und deutschen Literatur an der Universität von Chongqing gehörte sie zu den Ersten der Seminare; ihre Arbeit zur Erlangung des Magistergrades hatte Heinrich Heine zum Thema. Ihr eigentliches Berufsziel war Lehrerin und später Dozentin gewesen, aber da die kommunistische Partei ihr Studium und ihren Lebensunterhalt im Studentenheim bezahlte, bestimmte die Partei auch, wo sie nach Abschluß der Studien eingesetzt werden sollte. Es war ein Glücksfall, daß das staatliche Reisebüro CITS in ihrer Heimatstadt Kunming gerade zu dieser Zeit dringend nach deutschen Dolmetschern suchte, weil immer mehr deutsche Reisegruppen Yunnan besuchten. So wurde Liyun in die deutsche Sektion des CITS überwiesen, und sie hatte es bisher nicht eine Stunde lang bereut. Ein freies Leben war es, das auf sie wartete.
Liyuns Eltern, die vorher in Dali wohnten, hatten einen Ruf an die Hochschulen von Kunming bekommen. Ihr Vater war Professor für chinesische Literatur, ihre Mutter Professorin für die gleiche Disziplin geworden. Sie hatten eine schöne Wohnung erhalten und waren geachtete Genossen. Aber Liyun zog nicht zu ihren Eltern. Sie teilte sich mit einer Kollegin eine kleine eigene Wohnung, deren Besitzer das Reisebüro war. Und sie hatte Shen Zhi kennengelernt, den jungen Journalisten, als dieser noch bei der Kunminger Zeitung arbeitete, und sich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Als Cai Qiang schweigend weiter in den Papieren blätterte, nahm sie allen Mut zusammen und fragte:
»Herr Cai, ich war jetzt über zwei Wochen unterwegs. Kann ich zwei Tage frei haben?«
»Nein!« sagte Cai knapp. Liyun zuckte zusammen.
»Aber bisher haben Sie mir …«
»Es handelt sich um eine Ausnahme.«
»Shen Zhi kommt am Freitag.«
»Vergiß es!« Cai blickte wieder auf. Natürlich wußte beim CITS jeder, daß zwischen Liyun und Zhi eine große Freundschaft bestand. Cai hatte ihn sogar persönlich kennengelernt, und er hatte den jungen, strebsamen Mann kritisch beobachtet und damals zu Liyun gesagt:
»Zhi ist ein begabter Mann. Er hat eine gute Zukunft vor sich. Ich schätze, wir werden dich nicht mehr lange im Reisebüro haben. Ihr werdet bald heiraten.«
»Ich weiß es nicht, Herr Cai.«
»Du liebst ihn doch.«
»Ja, aber meine Eltern sind dagegen. Er hat eine Stelle in Dali angenommen.«
»Das ist wahrhaftig ein Problem. Du wirst in Dali nicht arbeiten können. Du wirst in Kunming wohnen, Shi in Dali … und dazwischen liegen 400 Kilometer. Er kann dich nur jedes Wochenende besuchen.«
»Auch das nicht. Eine Fahrt mit dem Bus kostet 30 Yuan, und er soll ein Monatsgehalt von nur 150 Yuan bekommen. Höchstens einmal im Monat kann er kommen, und dann nur für ein paar Stunden. Die Fahrt dauert mindestens neun Stunden hin und neun Stunden zurück, und er bekommt nur am Sonntag frei und muß am Montag wieder in der Redaktion sein. Wieviel Zeit bleibt dann für uns? Deshalb sind meine Eltern dagegen! Das sei keine Ehe, sagen sie. Das würde uns nur unglücklich machen.« Inzwischen hatte Shen Zhi seinen Job in Dali längst angetreten.
»Zhi will also schon am Freitag kommen?« fragte Cai.
»Er hat Sonderurlaub bekommen, Herr Cai. Wir haben uns über sechs Wochen nicht gesehen. Ich freue mich auf Freitag.«
Cai Qiang räusperte sich, nahm seine Brille ab, putzte sie mit seiner Krawatte und setzte sie wieder auf. Dabei vermied er es, Liyun anzusehen …
»Es tut mir leid«, sagte er dann. »Ich bedauere es wirklich …«
»Was bedauern Sie, Herr Cai?«
»Dein Freitagstreffen fällt aus.«
»Nein! Bitte nicht, Herr Cai!«
»Ich habe keine Macht, es zu ändern.«
»Was können Sie nicht ändern?«
»Ein wichtiger Besuch kommt nach Kunming. Ein VIP aus Deutschland. Ein sehr bekannter
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