Der Schwarze Mandarin
habt ihr im Westen geschwiegen, da waren eure Augen auf den Rücken gedreht! Und dann der Golfkrieg – gar nicht so lange her. Da waren es schon sagenhafte Helden, die ein Land befreiten, nicht, weil es von einem Diktator besetzt worden, sondern weil das Milliardengeschäft mit dem Öl in Gefahr war. Und was haben die westlichen Politiker gesagt? Ein gerechter Krieg. Hat man die Verantwortlichen in ihren Regierungspalästen angeklagt oder geächtet? Im Gegenteil. Und die Toten? Vergessen im Wüstensand – darüber spricht man nicht. Warum also immer China? Warum ist China der böse Bube der Weltfamilie? Als China Tibet in seine Völkergemeinschaft zurückholte – welch ein Geschrei bis heute! Wer hat damals geschrien, als die Deutschen das Sudetenland besetzten und in Österreich einmarschierten? Niemand! Das war gerecht. Das hieß ›Heim ins Reich!‹ Und sogar England und Frankreich segneten das Einverleiben ab. Hong Bai Juan Fa, verlassen wir die Politik – sie ist schmutziger als das, was die Triaden tun. Noch einen Mao Tai?«
»Ja. Jetzt ja.« Rathenow sah Min Ju erstaunt an. War das noch der Daih-Loh von München, wie er ihn bisher kannte? Waren sie alle innerlich gespalten – halb gnadenlose Gangster, halb glühende Patrioten? Es war eine niederschmetternde Erkenntnis, die ihn tief beeindruckte. »Wo treffe ich Ninglin?« fragte er.
»Wie immer am Isartorplatz. Da fällt es am wenigsten auf. Da ist jeder froh, wenn er von dem Platz herunterkommt.« Min Ju erhob sich, irgendwie sah er erschöpft aus. »Wie gestern – um elf Uhr. Heute sind es neunzehn Lokale. Ich wünsche dir viel Erfolg!«
In sein Tagebuch notierte Rathenow nachts um ein Uhr:
Heute neunzehn Lokale. Einnahmen DM 65.892, – . Ninglin bestrafte zwei Wirte. Einen dadurch, daß er die junge Frau vergewaltigte. Ich mußte den Ehemann festhalten und ihn zusehen lassen. Ninglin ist eine wilde Bestie. Er hat die Frau fast zerrissen, als er ihre Beine spreizte. Hinterher blu tete sie aus mehreren Bißwunden in Brust und Unterleib. Der Wirt zahlte 8.000 Mark, einschließlich Strafgebühr. Der andere Wirt auf der Liste zahlte sofort, aber Ninglin führte trotzdem seinen Auftrag aus: Er schlug der jüngsten Tochter die Nase ein. Nasenbeinbruch. Wenn das so weitergeht, bin ich bereit, Ninglin umzubringen. Welch ein Satan … und er freut sich über jedes seiner Opfer. Auf der Rück fahrt sagte er zu mir: »Ein guter Tag! Hast du gesehen – mir ist es dreimal gekommen, hintereinander. Sie ist eine schöne Frau. Leider nicht mehr für dich. Der Alte wird ab jetzt brav zahlen.« Ich hätte ihm ins Gesicht spucken können. Aber was würde das bringen? Sie würden Liyun weiter quälen und ihr einen Finger abhacken! Ich fühle mich wie ausgehöhlt … leer, leer, leer …
Für diese Woche war es die letzte Tour. Die nächsten Schutzgeld-Opfer waren in zehn Tagen an der Reihe. Die Umgebung Münchens – vom Tegernsee bis zum Chiemsee.
»Da werden die Scheinchen flattern!« hatte Ninglin fröhlich gesagt. »Da fressen die Reichen, die nicht auf die Preise schauen.«
Rathenow schloß das Tagebuch weg in den Tresor zu den anderen Notizen über die Triaden. Er nahm sich vor, Dr. Freiburg die Schloßkombination zu nennen für den Fall, daß ihm etwas passierte. Dann sollte er alles der Polizei übergeben. Es war bereits jetzt genug Material, um die 14K zu zerschlagen und den Massenmörder Ninglin zu überführen.
In den nächsten acht Tagen ließ Rathenow bei Min nichts von sich hören. Ein paarmal klingelte das Telefon – Rathenow nahm den Hörer nicht ab.
Er begann, seinen ersten Roman zu entwerfen: Das Mädchen Liping, das am Ufer des Lugu-Sees saß und weinend in das silberne Wasser blickte und von einer Liebe träumte, die sich nie erfüllen würde. Nicht Liyun, nein, Liping hieß sie, und alles war wie ein Märchen aus uralten Zeiten, wo ein Mädchen den Mann heiraten mußte, den der Vater als Bräutigam ausgewählt und schon bei ihrer Geburt versprochen hatte. Ein bitter-süßer Liebesroman. Aber er hatte große Schwierigkeiten. Schließlich hatte er sonst nur Artikel, wissenschaftliche Arbeiten und Reiseberichte geschrieben.
Ein paarmal klingelte es auch an der Haustür – Rathenow öffnete nicht. Selbst drei Faxe seines Verlegers schob er zur Seite und beantwortete sie nicht.
Laßt mich allein! Laßt mich alle allein in meiner eigenen Welt!
Am neunten Tag fuhr Rathenow zu Dr. Freiburg. Es war gegen 20 Uhr, und Freiburg öffnete ihm in
Weitere Kostenlose Bücher