Der Schwarze Mandarin
sie sicher. Immer wieder der alte Irrtum! Ninglin und du werden sie von ihrer Dummheit überzeugen. Sieh mich nicht so böse an, Bruder. Niemand wird getötet werden. Nur eine deutliche Ermahnung. Der eine Wirt hat eine schöne Frau, der andere zwei Töchter und einen Sohn. An sie wird man sie erinnern. Ninglin hat schon immer einen interessierten Blick auf die junge Frau geworfen. Was wirst du in den nächsten Tagen tun?«
»Ein Buch anfangen.«
»Sehr schön. Über was willst du schreiben?«
»Meinen ersten Roman. ›Liebe am Lugu-See‹.«
Min Ju grinste. »Deine Liebe zu Liyun?«
»Nein. Eine frei erfundene Geschichte. Eben ein Roman.«
»Auch ein Roman kann sehr persönlich sein.«
»Ich habe Liyun am Lugu-See nicht in den Arm genommen … nur bewundert.«
»Ich weiß. Du lebst in deiner Villa und steckst nur ab und zu den Kopf heraus wie ein Maulwurf. Manchmal gehst du auf abenteuerliche Reisen, aber wenn du dann zurückgekehrt bist, vergräbst du dich wieder. Wartest du auf deinen Tod?«
»Warten? Nicht direkt. Aber er kann plötzlich kommen.«
»Du siehst müde aus. Du bist doch gesund?«
»So sehe ich aus. Auch die Ärzte täuschen sich. Im Seepark von Kunming hat ein chinesischer Arzt mit einem Elektrofühler mein Ohr abgetastet, und dann mußte ich den Stab fest in der Hand halten. Er hat mir gesagt, was mit meinem Körper los ist. Es war eine lange Liste von Krankheiten. Ich glaube ihm.«
»Und was sagen deine Ärzte?« fragte Min Ju sehr ernst.
»Der eine sagt das, der andere jenes, und viele Diagnosen widersprechen sich. Nur ein Arzt hat das Richtige gesagt: Dir fehlt jeden Tag ein Tritt in den Hintern!«
»Ein wunderbarer Arzt!« Min Ju lachte laut. »Ich könnte ihn auch mal besuchen.«
»Er würde feststellen, daß du voller Gift bist.«
»Wenn er das erkennt, ist er ein medizinisches Genie! Wie heißt der Wunderheiler?«
»Dr. Freiburg.«
»Ach so, der.«
Es kann nichts schaden, wenn er Freiburg konsultiert, dachte Rathenow. Und es ist gut, wenn Freiburg sein Gesicht kennt. Später, wenn mir die Flucht aus den Klauen der Triaden gelingen sollte, kann er als Zeuge aussagen und Min Ju identifizieren. Er wird es müssen, denn wenn Liyun und ich flüchten können, wird der Gao Lao in Hongkong Mins Tod befehlen. Ein Versager hat bei 14K keinen Platz mehr. Und dann kann nur Freiburg sagen: Ja, das ist Min Ju, ein Patient von mir. Ich habe bis heute nicht gewußt, daß er der Führer der Triaden von München ist.
»Soll ich dich bei ihm anmelden?« fragte Rathenow.
»Nein! Ich überlege es mir. Wir haben in München gute chinesische Ärzte, aber sie arbeiten auch im stillen. Sie sind illegal hier, wie so viele Chinesen. Einer war sogar Professor in Chengdu. Dort gibt es eine berühmte Universität. Er mußte im Juni 1989 fliehen, weil seine Studenten nach Demokratie schrien. Es war der berühmte, aber sinnlose Aufstand … ein paar tausend Demokratiegläubige, und hinter ihnen 1,3 Milliarden träge und unwissende Chinesen. Konnte das gutgehen? Was kümmert einen Bauern am Gelben Fluß, wer in Beijing regiert? Er will satt werden, weiter nichts. Und der Händler in Urumqi, an der alten Seidenstraße, will seine Waren auf dem Markt verkaufen, ganz gleich, wer in Beijing im Gebäude der Volksregierung sitzt. Ihr in Europa könnt eine Revolution machen – ihr habt weniger Menschen, als wir Minderheiten haben. Wäret ihr 1,3 Milliarden, sähe auch eure Welt anders aus. Das vergeßt ihr Europäer oder begreift es nicht: China ist anders.«
Min Ju gab Rathenow die neue Liste für den heutigen Tag. »Aber was kümmert uns die Politik? Man nennt uns Gangster … Wie soll man da die Politiker nennen? Wir bestrafen nur Ungehorsame, aber sie schicken ganze Völker in die Kriege und schlucken Millionen Tote, ohne zu rülpsen oder Sodbrennen zu bekommen. Und dann greifen sie China an und lamentieren von Menschenrechten. Welche Heuchelei! Vor ihrer eigenen Tür verrecken jeden Tag Tausende. Es stimmt doch, daß der 2. Weltkrieg über 55 Millionen Tote gekostet hat?«
»Ja. Vielleicht noch mehr. Das ist nur eine Schätzung.«
»55 Millionen.« Min Ju schüttelte den Kopf. »Sie fielen bei uns gar nicht auf … bei 1,3 Milliarden! Wie viele Tote soll es auf dem Tianamen-Platz gegeben haben?«
»Über tausend.«
»Und wie viele Tote haben die Amerikaner in Vietnam hinterlassen? Wie viele im Korea-Krieg? Wie viele Farbige sind in Südafrika erschossen worden? Wie viele in Angola und Mozambique? Da
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