Der Schwarze Mandarin
unbedeutendes Mädchen, eine Rotchinesin, völlig wertlos für einen so berühmten Mann! Liyun, begrab deinen Traum im Lugu-See, wo du so glücklich warst, als er seinen Arm um dich legte und dir die Tränen aus den Augen wischte.
Rathenow noch einmal ein Fax zu schicken oder einen Brief zu schreiben, verbot ihr der Stolz. Ich bin zwar ein armes, aber selbstbewußtes Mädchen.
Liyun zog einen Strich unter das Kapitel Rathenow, aber sie vergaß ihn nie. Und sein Fax zerriß sie auch nicht. Bevor sie es wegschloß in ihren kleinen Schrank, schrieb sie auf die Rückseite des Papiers ein Gedicht des Dichters Li T'ai-po:
Herbstlich helles Leuchten überm See.
Einer treibt dahin, sich Schwanenlaub zu brechen.
Lotos lächeln, möchten mit ihm sprechen –
dem im Boote bricht das Herz vor Weh …
Es war das letztemal, daß Liyun dieses Blatt in die Hand nahm.
*
Als Rathenow unangemeldet im ›Schwarzen Mandarin‹ erschien und nach Min Ju fragte, war man sehr erstaunt. Es war Sitte, daß man sich vorher telefonisch ankündigte oder bestellt wurde. Den Daih-Loh so einfach sprechen zu wollen, wie man einen gewöhnlichen Menschen besuchte, widersprach der Würde des Verehrten. Nur weil Rathenow ein Ausländer war, der die Gepflogenheiten noch nicht ganz kannte, rief der Kellner über das Haustelefon im Keller an. Dann nickte er Rathenow zu.
»Du darfst kommen«, sagte er. »Betrachte das als ein Zeichen der Güte.«
»Ich werde in einen Kotau fallen«, antwortete Rathenow sarkastisch und stieg über die Geheimtreppe nach unten. Er durchquerte den Tempelsaal und fand Mins Bürotür offen. Min saß hinter seinem langen Schreibtisch und rauchte eine Zigarre. Er machte keinen zornigen Eindruck und winkte Rathenow herein.
»Was führt dich zu mir, Hong Bai Juan Fa?«
»Der Doktor hat dir das Rauchen verboten!«
»Er sieht's ja nicht.« Min lachte genüßlich. »Und er hat gesagt: Weg mit den Zigaretten. Von Zigarren hat er nicht gesprochen.« Er deutete auf einen Stuhl, und Rathenow setzte sich.
»Ich denke, du schreibst an einem neuen Buch?«
»Das Konzept ist schon fertig.«
»Immerhin ein Teilerfolg. Nur der Fleißige bringt seine Ernte ein; der Faule muß das Gras essen. Hast du Probleme?«
»Ja und nein.« Rathenow nahm allen Mut zusammen. Wie Dr. Freiburg meinte: Man weiß nie, wie ein Chinese reagiert, wenn man ihm seinen Tod verkündet. »Du weißt, daß Dr. Freiburg mein Arzt ist.«
»Ja.«
»Und mein Freund seit über 25 Jahren.«
»Ein guter Freund …«
»Du warst bei ihm, hat er mir gesagt. Hast gesagt, ich hätte dir ihn empfohlen.«
»Durfte ich das nicht?«
»Welche Frage, Daih-Loh. Es war gut so. Weil ich dich empfohlen habe, konnte Dr. Freiburg mit mir über dich sprechen. Ich habe ihm übrigens gesagt, du wärest mein literarischer Agent für China.«
»Eine sehr gute Idee.«
»Mit einem so alten Freund redet man manchmal über Dinge, die man eigentlich verschweigen müßte.« Rathenow suchte die richtige Formulierung, um Min Ju nicht zornig zu machen. »Wir sprachen auch über dich.«
»Hat dir dein Freund gesagt, daß ich ein Herzleiden habe? Das wußte ich schon immer. Das ist nichts Neues. Neu war nur, als er mir nach dem Röntgen sagte: ›Sie haben eine angegriffene Leber. Saufen Sie viel?‹ Er sagte saufen, als sei ich ein Wasserbüffel. Aber mir gefiel seine Ehrlichkeit.«
»Um diese Ehrlichkeit zu unterstreichen, bin ich bei dir.« Das ist ein guter Einstieg, dachte Rathenow. Min Ju liefert mir das Stichwort, nach dem ich gesucht habe. »Deine Leber ist angegriffen – so kann man es wirklich nennen. Aber auch deine Lunge ist angegriffen worden. Stell dir das so vor: Da ist ein General und schickt seine Soldaten zu verschiedenen Kampfplätzen. Diese Streutaktik soll den Gegner zermürben und am Ende besiegen. Er hat nicht mehr die Kraft dazu, an allen Fronten zu kämpfen. Er ist umzingelt und kann nicht mehr ausbrechen. Er muß kapitulieren. Von außen kann ihm keiner mehr helfen – die Umzingelung bricht keiner mehr auf.«
Rathenow schwieg. Er sah Min Ju an, und Min Ju starrte in seine Augen. Eine Weile war es still zwischen den beiden, dann sagte Min mit fester Stimme:
»Du hast es gut formuliert. Ich habe Krebs, nicht wahr?«
Rathenow atmete auf. Für einen Augenblick bewunderte er Min sogar. Wie würde ich mein Todesurteil hinnehmen? Auch so ruhig?
»Ja!« sagte er.
»Wo sitzt er? Der mächtige General …«
»In der Bauchspeicheldrüse.«
»Und er hat mich bereits
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