Der Schwarze Mandarin
kannst du auch in München bleiben.« Sie hatte sich am Armaturenbrett festgeklammert, die Beine gegen das Bodenblech gestemmt. »Willst du uns umbringen?«
»Liyun! Es gibt jetzt nur noch diesen einzigen Weg! Ich muß den Russen vertrauen, um von den Triaden befreit zu werden. Sie haben für uns in Adelboden, im Berner Oberland, eine Wohnung bereitgestellt. Ehe uns die Schweizer Triaden aus ihrer ›Drachenstadt‹ Luzern finden, sind wir längst aus der Schweiz verschwunden. Spurlos. Für immer.«
»Aber die Russen kennen unser Versteck.«
»Auch sie nicht. Adelboden wird nur eine Station sein … und dann lösen wir uns auf in Schweigen.«
»Und wovon sollen wir leben?«
»Ich werde meine Bankkonten auflösen und alles in Dollars umtauschen. Es wird für einige Jahre reichen.«
»Und dann? Wenn du hundert Jahre alt wirst?«
»Ich werde keine hundert.«
»Ich will aber, daß du hundert Jahre wirst. Du kannst keine Arbeiten mehr veröffentlichen – es gibt dich ja nicht mehr. Und an einer Uni kannst du auch nicht arbeiten.«
»Auch das habe ich überlegt«, sagte Rathenow und startete den Wagen wieder. »Der Münchener Polizei werde ich Min Ju und Ninglin schenken, bevor die Russen aktiv werden. Für dieses Zuckerl muß die Polizei etwas tun.«
»Du bist ein Spinner, Bi Xia! Was du da denkst, ist unmöglich.«
»Warten wir es ab. Ich habe gestern nacht in Gedanken alles durchgespielt. Es ist der einzige Weg in unsere Freiheit.«
In der Nacht lag Liyun wieder in Rathenows Arm und genoß die Wärme seiner Haut. Aber sie schlief nicht. Sie lagen noch immer im Gastzimmer, Franziska hatte ihre Kleider noch nicht abholenlassen. Hoffte sie doch, daß das ›chinesische Abenteuer‹ bald vorbei sei? Rathenows Schlafzimmer betrat Liyun nicht mehr.
»Dort stinkt es!« sagte sie trotzköpfig. »Die Luft ist verpestet!«
Wohin werden wir fliehen? dachte sie in dieser langen Nacht. Wo können wir zusammenleben? Wo kann ich seine Frau sein? Wo kann ich ein Kind von ihm bekommen? Ein Kind möchte ich von ihm … dann wird er immer um mich sein, wenn er zu den Ahnen gegangen ist. In seinem Kind wird er weiterleben und in dem Kind des Kindes und immer von Kind zu Kind … das ist das ewige Leben. Bi Xia … wir sterben nie! Aber ich brauche einen Platz, wo unser Kind überleben kann …
Als sie aufwachte, war heller Tag. Rathenow stand schon in der Küche, kochte Eier, stellte das Frühstücksgeschirr auf das große Tablett, um es in den Wintergarten zu tragen.
Und er kochte eine Suppe für Liyun. Eine Nudelsuppe mit ausgewässerten Xiang Gu, den chinesischen Pilzen.
*
An diesem Mittag klingelte Gregor Antonowitsch Burjew an Rathenows Tür. Er kam diesmal allein wie ein guter Freund und umarmte Rathenow nach russischer Art. Er wollte das Paßfoto von Liyun abholen. Der Paß war schon hergestellt und lag in der unbekannten Zentrale der Russen-Mafia von München. Ihr deutscher Chef Leonid Iwanowitsch Streletkin – das Hauptquartier lag in Moskau – war sehr zufrieden mit Burjew.
»Wenn sein Material gut ist«, hatte er gesagt, »halten wir unser Versprechen. Betrügt er uns, liebe Genossen … eine Kalaschnikow ist schneller als seine Beine. Prüfen wir alles genau.«
Burjew nahm das Foto entgegen. Er sah sekundenlang Liyun selbst, als sie durch die Halle lief. Er blickte ihr verzückt nach und steckte das Foto ein.
»Ist schööönä Madtka«, sagte er mit Kennermiene. »Gratulierä. Komma morgän wiedär mit Paß. Du hast allä Unterlagän?«
»Bis in alle Einzelheiten. Aber ich gebe sie nicht eher heraus, bis ich den Paß habe. Einen einwandfreien Paß!«
»Paß ist ächt wie mein Arsch!« Burjew grinste lustig. »Ist das Bäweis?«
»Ich lasse mich überraschen. Nicht von deinem Arsch, sondern von dem Paß!«
»Du Spaßvogäl.« Burjew umarmte Rathenow wieder. »Man schohnä Arsch … nix wärt … Mansch ohnä Paß, gar nichts wärt … Bis morgän!«
Rathenow sah ihm nach, wie er in einen unauffälligen VW-Golf stieg und mit Vollgas aus dem Tor preschte. Morgen also war der entscheidende Tag für sein und Liyuns Leben.
Was mußte er mitnehmen? Was war wichtig für eine Flucht ins Nichts? Anzüge, Unterwäsche, Hemden, Schuhe, Strümpfe … das alles konnte man wieder kaufen in einem fernen Land. Wertsachen wie seine Ikonen, die Münzsammlung, die Originalgraphiken von Chagall, Picasso und Dali? Seine Buddha-Sammlung? Die unersetzbaren Teppiche und Wandgobelins?
Dreißig Kilogramm darfst du
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