Der Schwarze Mandarin
See, sieht die Schönheit und vergißt, daß ein Mädchen neben ihm sitzt, das vor Sehnsucht weint. Nicht wegen der Stille und der Schönheit der Landschaft, sondern wegen der Qual, dich, Hans Rathenow, zu lieben und es dir nicht sagen zu können. Wie soll ich dir zeigen, was ich denke und empfinde, wenn du es nicht spürst? Ich habe den Kopf an deine Schulter gelehnt, ich habe dir meinen Mund entgegen gehalten – mehr darf ich doch nicht tun. Für ein Mädchen mit Anstand ist das schon das Höchste. Aber du sitzt stumm neben mir, als hättest du den Arm um einen Baumstamm gelegt. Jetzt ist alles vorbei … morgen werde ich wieder die Reiseleiterin vom Tourismusbüro CITS sein, der man die Aufgabe übertragen hat, einen VIP in ein noch unbekanntes Gebiet Chinas zu führen. Hans Rathenow, solch ein Abend kommt nie wieder …
Durch die dünne Wand hörte sie aus dem Nebenraum das Seufzen der jungen Frau und das Knarren des niedrigen Bettes. Liyun zog eine dünne Decke über sich – die Nächte auf dem Hochland waren kühler als in Dali oder Lijiang. Ihre Gedanken wanderten zu Zhi, der darauf wartete, daß sie ihn heiratete, und dem letzten Gespräch, das sie in Dali mit ihm geführt hatte.
Es war der Abend nach dem Tanz in der Hotelbar. Zhi hatte gesagt, als sie in seinen Wagen stieg: »Fahren wir zu mir!« und hatte seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt. Und sie hatte geantwortet: »Nein. Fahr uns herum. Wohin, das ist egal. Nur fahr … und hör mir zu.«
Er hatte sie verständnislos angeschaut, aber er war mit ihr den Erhai-See entlanggefahren.
»Was willst du sagen?« hatte er nach einer Weile des Schweigens gefragt.
»Ich glaube, ich kann dich nicht heiraten, Zhi …«
»Warum?« Er hatte am See angehalten und sie erstaunt angesehen. »Was ist los mit dir, Liyun? Was ist los mit uns?«
»Ich kann es nicht erklären, Zhi. Es ist plötzlich alles anders geworden. Nichts ist mehr wie früher. Ich kann dich nicht mehr lieben, wie eine Frau ihren Mann lieben sollte. Dann wird eine Ehe zu einer lebenslangen Qual.«
»Was habe ich dir getan?« hatte Zhi gefragt. Seine Stimme war heiser vor innerer Erregung. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein. Du nicht.«
»Hast du mich mit einem anderen Mann betrogen?«
»Nein! Ich schwöre dir … nein! Kein anderer Mann hat mich angefaßt.«
»Was ist es dann?«
»Ich kann es dir nicht erklären. Und wenn – du würdest es nicht verstehen.«
»Versuche es!«
»Ich habe dich im Geiste betrogen. Mit dem Herzen. Mit der Seele. Mit meinen Wünschen und Träumen. Kannst du das verstehen?«
»Ich glaube – ja. Aber ich begreife es nicht.« Er hatte den Kopf gesenkt, und seine Traurigkeit tat ihr fast körperlich weh. Sie wollte sein Haar streicheln, aber dann zuckte ihre Hand doch zurück. Starr saß sie neben ihm und blickte über den nachtdunklen Erhai-See, bis Zhi die Stille durchbrach.
»Mehr kannst du nicht sagen?« fragte er.
»Ist das nicht genug?«
»Nicht für mich, nicht für meine Liebe zu dir … Was ist das für ein Mann?«
»Darüber kann ich nicht sprechen, Zhi.«
»Kenne ich ihn?«
»Nein«, log sie und schämte sich gleichzeitig ihrer Unaufrichtigkeit. Aber wie konnte sie ihm sagen, an wen sie dachte, ohne damit den Himmel aufzureißen? »Er … er ist weit weg.«
»Du hast ihn bei einer Führung kennengelernt …«
»Frag mich nicht. Bitte.«
»Also doch! Woher kommt er? Aus Hongkong, Beijing, Shanghai oder sogar aus Taiwan?«
»Ich gebe dir keine Antwort, Zhi.« Liyun schloß die Augen. An Rathenow denkt er nicht – dieser Gedanke ist für ihn zu absurd. Wie kann man auch so etwas Wahnsinniges denken? Ich frage mich ja selbst, ob ich nicht verrückt geworden bin. Aber heute, während des Tanzabends, habe ich gewußt, daß ich Zhi nie heiraten kann. Er kann besser tanzen als Rathenow, er ist ausdauernder, nicht einmal nach Stunden zeigt er Müdigkeit, nicht einen Schweißtropfen auf der Stirn – und da ist dieser andere Mann aus Deutschland, die weißen Haare schweißverklebt, nach jedem Tanz schwer atmend, aber mit aller Energie ankämpfend gegen diese Schwäche in der letzten Stunde, mit einem fast verzweifelten Lächeln, bis es nicht mehr ging, bis er so ehrlich war zu sagen: Ich muß ins Bett. Ich kann nicht mehr. Da wußte ich, daß ich ihn lieben muß. Diesen Mann, der mein Vater sein könnte und der etwas an sich hat, das mich von Stunde zu Stunde immer mehr veränderte. Zhi, wie soll ich dir das erklären?
»Gib uns eine
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