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Der Schwarze Mandarin

Der Schwarze Mandarin

Titel: Der Schwarze Mandarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Manchmal kam auch ein Händler mit einem klapprigen Lastwagen über die Berge, beladen mit modischer Kleidung. Und sogar schicke Unterwäsche – Spitzen-BHs und raffinierte Slips – brachte er mit. Der Lastwagen wurde jedesmal gestürmt. Man feilschte nicht einmal um den Preis – ein müheloses Geschäft.
    Auch diese jungen Leute in westlicher Kleidung fotografierte er. Schon bald würde das keine Besonderheit mehr sein, denn der Fortschritt und mit ihm der Tourismus würde auch dieses Dorf überrollen wie so viele andere. In zwei oder drei Jahren würde man italienische Schuhe in einem Geschäft am Dorfrand kaufen können, wo eine neue Stadt entstanden war, das Dorf aber die Funktion eines Heimatmuseums bekommen hatte und die Frauen und Mädchen ihre Mosuo-Tracht nur noch aus der Truhe holten, um den Touristen gegen gute Yuans ihre Tänze vorzuführen.
    »Wir sind gerade zur richtigen Zeit gekommen«, sagte Rathenow einmal zu Liyun. »Der große, unaufhaltsame Umbruch, die Vermischung einer Urkultur mit der Neuzeit. Ich danke Ihnen, daß Sie mich hierher geführt haben.«
    »Es war Ihre Idee, Herr Rathenow. Ich begleite Sie nur.«
    »Liyun, sagen Sie nicht ›nur‹! Das ist das Wichtigste.«
    »Für Sie sind die Mosuos wichtig – ich bin völlig unwichtig.«
    »Wie kann ich Ihnen das Gegenteil beweisen? Ohne Sie wäre ich jetzt hier der einsamste Mensch. Aber das glauben Sie mir doch nicht.«
    »Kein Mensch, der eine große Aufgabe zu erfüllen hat, ist einsam. Er lebt mit und in seinem Werk.«
    »Gibt es für eure Philosophen und Dichter eigentlich nichts, für das sie keine Spruchweisheit haben?«
    »Ja. Coca-Cola …«
    Sie lachte laut, ließ Rathenow stehen und ging hinunter zum See-Ufer.
    An einem Abend, ein paar Tage nach ihrer Ankunft, suchte Rathenow nach Liyun. Sie war nicht bei ihrer Gastgeberfamilie, er fand sie auch nicht in der Teestube, wo die Männer noch einmal zusammensaßen, bis sie zu ihren Frauen gingen. Denn am Morgen mußten sie ihre Frauen verlassen, um bei ihren Müttern zu leben, denen sie gehörten und die allein über sie bestimmen durften. Nach Beginn der Dämmerung herrschte also ein ständiges Hin- und Herpendeln der Männer, von Hof zu Hof, vom Haus der Mutter, das sein eigentliches Zuhause ist, zum Haus der Ehefrau, bei der die Kinder leben. Die Kinder betrachten ihren Vater als einen Onkel, der zu Besuch kommt, denn von Geburt an werden sie dazu erzogen, in der Mutter allein den Mittelpunkt ihres Lebens zu sehen. Sie allein ist verantwortlich für die Erziehung – der Vater hat kein Mitspracherecht. Auch diese merkwürdige Lebensform, die ›Azhu-Ehe-Sitte‹ genannt, wird wohl mit dem Fortschritt verschwinden, dachte Rathenow.
    Der Bürgermeister, den Rathenow nach Liyun fragte, indem er mit den Fingern und Händen eine Frauenfigur darstellte und dann auf sich und in die Ferne zeigte, hob die Schultern. Er verstand die Zeichensprache des Fremden, aber helfen konnte er ihm nicht. Der freundliche Chinese aus Zhongdian war auch nicht zu finden, was aber in Rathenow keinen Verdacht auslöste.
    Es war ein warmer Abend. Von den Bergen strich ein kühlender Wind über das weite Tal und den See, die Erde erholte sich von der Hitze des Tages, der See glitzerte in reinem, tiefem Blau, in seiner Mitte leuchtete weiß der Tempel der Göttin Guanyin, der barmherzigen Urmutter des Mosuo-Volkes. Ein einsamer Kahn durchpflügte das sonst völlig stille Wasser. Die Felsen rund um das Tal, kahlgeschlagene, nackte, rotschimmernde Steine, waren wie zwei weit auseinandergestreckte Hände, die das fruchtbare Land schützten. Der Schatten des ›Berges der Löwin‹ lag im See, als sei die Kuppe in ihm versunken.
    Rathenow ging am Ufer entlang, ergriffen von der phantastischen Schönheit, die sich mit dem Untergehen der Sonne jede Minute veränderte. An einem flachen Uferstreifen, auf den Fischer ihre Boote gezogen hatten, fand er Liyun endlich. Sie saß in einem der Holzkähne, die wie vor Hunderten von Jahren aus einem einzigen Baumstamm gehämmert und geschnitzt worden waren, eine Art Kanu, das die Mosuos ›Schweinetrog-Boote‹ nannten. Eine alte Sage erzählt, daß einmal ein Fischer auf dem See von einem Sturm überrascht wurde. Die Wellen schlugen hoch, das leichte Boot aus Rohrgeflecht schlug um und versank, und der Fischer kämpfte gegen den Wind und den tobenden See um sein Leben. Das sah vom Ufer aus seine Frau, und da eine Mosuo-Frau tapfer und stark ist, schleppte sie einen hölzernen

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