Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
nieder. «Der Pfeffer des Lebens», erwidere ich ungerührt. Mich kriegt der alte Halunke nicht so leicht mit seinen Tricks. Ich bin nicht umsonst Mitglied des Dichterklubs Werdenbrück; wir sind große Fragen gewöhnt.
Riesenfeld beachtet mich nicht. «Was meinen Sie, Herr Kroll?» fragt er.
«Ich bin ein einfacher Mensch», sagt Georg. «Prost!»
«Zeit», beharrt Riesenfeld, «Zeit, dieses Fließen ohne Halt – nicht unsere lausige Zeit! Zeit, dieser langsame Tod.»
Dieses Mal setze auch ich mein Glas nieder. «Ich glaube, wir machen besser Licht», sage ich. «Was haben Sie zu Abend gegessen, Herr Riesenfeld?»
«Halten Sie die Klappe, wenn erwachsene Leute reden», erwidert Riesenfeld, und ich merke, daß ich einen Augenblick nicht aufgepaßt habe. Er wollte uns nicht verblüffen – er meint, was er sagt. Gott weiß, was ihm nachmittags passiert ist! Ich möchte ihm gerne antworten, daß Zeit ein wichtiger Faktor sei auf dem Wechsel, den er unterschreiben soll – aber ich ziehe vor, meinen Schnaps zu trinken.
«Ich bin jetzt sechsundfünfzig», sagt Riesenfeld. «Aber ich erinnere mich noch der Zeit, als ich zwanzig war, als wäre das erst ein paar Jahre her. Wo ist all das dazwischen geblieben? Was ist los? Man wacht plötzlich auf und ist alt. Wie ist das bei Ihnen, Herr Kroll?»
«Ähnlich», erwidert Georg friedlich. «Ich bin vierzig, aber ich fühle mich wie sechzig. Bei mir war es der Krieg.»
Er lügt, um Riesenfeld beizustehen. «Bei mir ist es anders», erkläre ich, um ebenfalls mein Scherflein beizutragen. «Auch durch den Krieg. Ich war siebzehn, als ich hineinging – jetzt bin ich fünfundzwanzig, aber ich fühle mich noch wie siebzehn. Wie siebzehn und siebzig. Mir ist meine Jugend beim Kommiß gestoh len worden.»
«Bei Ihnen ist das nicht der Krieg», erwidert Riesenfeld, der es anscheinend heute auf mich abgesehen hat, weil Zeit, der langsame Tod, mich noch nicht so erwischt hat wie ihn. «Sie sind nur einfach geistig zurückgeblieben. Im Gegenteil, der Krieg hat Sie sogar frühreif gemacht; ohne ihn ständen Sie heute noch auf der Stufe eines Zwölfährigen.»
«Danke», sage ich. «Welch ein Kompliment! Mit zwölf Jahren ist jeder Mensch ein Genie. Er verliert seine Originalität erst mit dem Eintreten der Geschlechtsreife, von der Sie Granit-Casanova ja so übertrieben viel halten. Ein ziemlich einförmiger Ersatz für den Verlust der Freiheit des Geistes!»
Georg schenkt neu ein. Wir sehen, daß es ein schwerer Abend wird. Wir müssen Riesenfeld aus den Schluchten der Weltschwermut hervorholen, und keiner von uns hat Lust, sich heute abend auf philosophische Plattheiten einzulassen. Wir möchten am liebsten unter einem Kastanienbaum ruhig, ohne zu reden, eine Flasche Moselwein trinken, anstatt in der Roten Mühle mit Riesenfeld über sein verlorenes Mannesalter zu trauern. «Wenn Sie sich für die Rea lität der Zeit interessieren», sage ich mit leichter Hoffnung, «dann kann ich Sie in einen Verein einführen, in dem Sie lauter Spezialisten dafür treffen werden – den Dichterklub unserer geliebten Heimatstadt. Der Schrifsteller Hans Hungermann hat das Problem in einem noch ungedruckten Werke auf etwa sechzig Gedichte ausgewalzt. Wir können gleich hingehen; jeden Sonntagabend ist eine Sitzung mit anschließendem gemütlichem Teil.»
«Sind Damen dabei?»
«Natürlich nicht. Dichtende Frauen sind dasselbe wie rechnende Pferde. Ausgenommen natürlich die Schülerinnen Sapphos.»
«Woraus besteht dann der gemütliche Teil?» fragt Riesenfeld logisch.
«Daraus, daß über andere Schrifsteller geschimpf wird. Besonders über erfolgreiche.»
Riesenfeld grunzt verächtlich. Ich will schon aufgeben, da flammt gegenüber das Fenster im Hause Watzek auf wie ein beleuchtetes Bild in einem finsteren Museum. Wir sehen Lisa hinter den Vorhängen. Sie zieht sich gerade an und trägt nichts außer einem Büstenhalter und einem Paar sehr kurzer weißer Seidenhosen.
Riesenfeld stößt einen Pfiff durch die Nase aus wie ein Murmeltier. Seine kosmische Melancholie ist mit einem Schlage verschwunden. Ich erhebe mich, um Licht zu machen. «Kein Licht!» faucht er. «Haben Sie denn keinen Sinn für Poesie?»
Er schleicht ans Fenster. Lisa beginnt, sich ein enges Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie windet sich wie eine Schlange. Riesenfeld schnauf laut. «Eine verführerische Kreatur! Donnerwetter, der Hintern! Ein
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