Der Schwarze Orden
seinen drei Begleitern nach Zürich fuhr. Da sie merkten, daß Tweed beim Fahren angestrengt nachdachte, wurde kaum gesprochen. Paula, die neben ihm saß, hatte zwar die Augen geschlossen, aber sie war wach. Woher Tweed diese Energie nahm, war ihr ein Rätsei. Er hatte in den letzten Tagen kaum geschlafen. Aber das überraschte sie nicht. Sie hatte schon eine ganze Reihe von Krisensituationen miterlebt, in denen Tweed auf schier unerschöpfliche Energiereserven zurückgegriffen hatte.
»Heute morgen bekam ich einen Anruf von Harry«, flüsterte Nield Newman zu. »Eine verschlüsselte Nachricht, sehr kurz. Im wesentlichen besagte sie, daß heute morgen in aller Frühe fast die ganze restliche Belegschaft des Chateau d’Avignon ausgerückt ist.
Es sind nur gerade genug Leute zurückgeblieben, um den Hotelbetrieb nicht ganz zum Erliegen kommen zu lassen.«
»Big Ben trommelt sein letztes Aufgebot zusammen«, platzte Tweed dazwischen. Er hatte jedes Wort gehört. »Würde mich brennend interessieren, wo er gerade ist.«
»Wahrscheinlich setzt er sich nach England ab«, meinte Nield.
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Tweed.
»Wir steigen wieder im Baur au Lac ab, nehme ich mal an«, sagte Newman.
»Falsch. Diesmal soll nicht jeder gleich auf den ersten Blick sehen, wo wir sind. Wir bleiben im Hotel Zum Storchen, einem guten Haus in der Altstadt am Limmatufer.«
Dann verfiel er wieder in Schweigen, und auch sonst sprach niemand mehr. Paula überlegte, was Tweed vorhaben könnte. Für sie stand völlig außer Zweifel, daß er genau wußte, was er als nächstes tun würde, aber sie hatte keine Ahnung, was das war. Sie ließ den Kopf nach hinten sinken, und plötzlich war sie eingeschlafen.
Im Chateau d’Avignon mußte Harry Butler wieder einmal seine schier unerschöpfliche Geduld unter Beweis stellen. Er hatte niemanden, mit dem er sich unterhalten konnte – die wenigen noch verbleibenden Gäste waren lauter Franzosen. Butler verstand zwar, was sie sagten, aber er sprach selbst nicht gut genug Französisch, um eine vernünftige Unterhaltung führen zu können.
Deshalb verbrachte er viel Zeit auf seinem Zimmer, wo er ein neues Buch über Sprengstoffe und die jüngsten Entwicklungen auf diesem Gebiet las. Beim Frühstück war ihm aufgefallen, wie wenig Hotelangestellte noch da waren, aber auf diesen Sachverhalt hatte er Pete Nield bereits am Vorabend am Telefon aufmerksam gemacht.
Nach dem Mittagessen brach er zu einem Spaziergang auf. Als er an der Rezeption vorbeikam, beugte sich Fred Brown mit einem schmierigen Grinsen über den Schalter.
»Ein bißchen Bewegung kann nie schaden, oder?«
»Vor allem, wenn man wie ich erst kürzlich einen Unfall hatte«, schwindelte Butler als Erklärung dafür, weshalb er sich die meiste Zeit auf sein Zimmer zurückzog. Er sah auf die Uhr und marschierte auf der verlassenen Straße los in Richtung Genf. Im Schatten der Bäume, die sich über die Fahrbahn wölbten, war es kühler. Als er sein Ziel erreichte – den Forstweg, an dem er sein Motorrad versteckt hatte –, ging er daran vorbei, sah aber auf seine Uhr.
Die Entfernung zum Chateau d’Avignon betrug fünf Minuten. Wenn er rannte, schätzte er, konnte er es in zwei Minuten schaffen. Fred Brown hatte gar nicht so unrecht gehabt, als er sagte, ein bißchen Bewegung könne nicht schaden. Butler mußte sich auf den rasanten Spurt vorbereiten, den er vermutlich hinlegen mußte, sobald er Marlers Bombe gezündet hatte.
Deshalb legte er die Strecke zum Hotel im Eiltempo zurück und stoppte die Zeit. Er brauchte etwas mehr als zwei Minuten.
Als Butler danach auf der Terrasse des Hotels Platz nahm, blickte er ganz bewußt kein einziges Mal zu dem Turm hoch, in dem sich die Kommunikationszentrale befand.
Nach der Ankunft auf dem Züricher Flughafen Kloten suchte Tina Langley, die ein ziemlich gewagtes Versace-Outfit trug, als erstes ein Münztelefon, um Hassan im Dolder Grand anzurufen. Sie konnte nicht wissen, daß Hassan eine Maschine vor ihr in Zürich eingetroffen war.
Sie stellte ihren Louis Vuitton-Koffer ab, holte Spiegel und Lippenstift aus ihrer Handtasche und zog sich die Lippen nach. Als sie den Blick durch die Ankunftshalle wandern ließ, fiel ihr ein gutgekleideter Mann auf, der sie aufmerksam musterte. Er hatte etwas in der Hand gehalten, was eigentlich nur ein Foto gewesen sein konnte.
Helmut Keller war einer von Becks besten Männern. Er war dazu abgestellt worden, die mit der Maschine aus Genf
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