Der Schwarze Papst
Donaustauf. Möchtest du uns etwas zur Erbauung vorlesen? Bitte lies etwas deiner Wahl.«
Der Älteste der Schüler, jener, der vorhin aus der Kapelle gerannt und wieder zurückgekehrt war, erhob sich. »Eine große Ehre, ehrwürdiger Vater.«
Dem stimmte Sandro zu. Die erste Lesung einem Schüler anzuvertrauen, war ein ungewöhnlicher Vertrauensbeweis. Die beiden anderen Schüler schienen ihm jedoch diesen Vorzug nicht zu neiden, denn sie aßen ohne Pause weiter.
Für die Dauer einiger Atemzüge waren die Blicke aller Anwesenden auf diesen schlaksigen jungen Mann gerichtet, der steif und voller Selbstvertrauen zum Pult schritt und dort die Heilige Schrift mit einer zielstrebigen Sicherheit durchblätterte, als habe er sein Tagebuch vor sich. Er wählte eine, wie Sandro fand, sehr schöne Bibelstelle, deren Schönheit er jedoch mit seiner übertriebenen sprachlichen Genauigkeit entstellte, indem er die Worte in Silben zerlegte. Sein Latein war ebenso perfekt wie grausam.
Angelo neigte sich zu Sandros Ohr. »Wie weit seid Ihr heute im Fall Carlotta gekommen?«, flüsterte er.
Sandro fand die Frage in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen schien sich Angelo nicht im Mindesten für Ignatius von Loyola zu interessieren, da er sich mit Sandro lieber über dessen Arbeit als über den berühmtesten Ordensgründer des Jahrhunderts unterhielt. Zum anderen kam Sandro wieder in Erinnerung, dass Carlotta und Angelo sich von irgendwoher gekannt hatten. Einige Tage vor ihrem Tod, als Carlotta in Sandros Amtsraum im Vatikan gewesen war, waren die beiden sich begegnet, hatten sich überrascht angesehen und mit Namen angesprochen. Vor allem Carlotta hatte nicht gewusst, wie sie sich verhalten sollte, und keiner von beiden hatte Sandro von sich aus erklärt, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Sandro vermutete, dass sie sich aus der Zeit kannten,
als Carlotta noch als Hure im Haus von Milos Mutter gearbeitet hatte.
Wieder wurde Sandro bewusst, wie wenig er über seinen Diener wusste. Angelo hatte Vater und Mutter und sechs sehr viel jüngere Geschwister, die er mit dem Geld, das er als Diener im Vatikan verdiente, unterstützte. Sandro hatte ihm das Salär erhöht, damit Angelo sich - ja, was leisten könnte? Sandro hatte keine Ahnung. Privat unterhielten sie sich nie. Angelo war fleißig und zuverlässig und loyal und ein netter, umgänglicher Kerl, und doch war es Sandro nicht möglich, ihm nicht nur als Assistent, sondern auch als Freund zu vertrauen. Das unschuldig engelhafte Gesicht - das wohl schon Angelos Eltern nach der Geburt aufgefallen war, weswegen sie ihm den passenden Namen gaben - schien etwas zu verbergen, etwas, das Sandro beunruhigte.
»Es geht langsam voran«, antwortete Sandro leise, um die Lesung nicht zu stören. »Fest steht, sie wurde ermordet.«
»Von einem Freier?«
»Ich will nicht ausschließen, dass sie jemanden empfangen hat. Aber einen Freier wohl nicht. Was sollte sie in einer leeren Wohnung mit einem Freier tun?«
»Was ist Euer nächster Schritt, Exzellenz?«
»Zunächst einmal bitte ich dich, mich in diesen Mauern nicht mit ›Exzellenz‹ anzureden.« Sandro kam einem Einwand Angelos zuvor. »Ich weiß, ich weiß, die Anrede steht mir als Visitator des Papstes zu. Doch mein Pater General lehnt es ab, dass Jesuiten offizielle Ämter in der Kirche übernehmen. Nur weil der Papst ihn darum gebeten hat, hat er in meinem Fall eine Ausnahme gemacht. Ich möchte ihn aber so wenig wie möglich …«
Als spürte er, dass von ihm die Rede war, blickte Ignatius plötzlich zu ihnen herüber. Es war das erste Mal, dass Sandros und Ignatius’ Blicke sich begegneten, und Sandro unterbrach sofort das Gespräch und nickte dem General ehrerbietig zu.
Tatsächlich ehrerbietig? Sandro war sich danach nicht mehr sicher. Hatte er nicht vielmehr kühl gegrüßt, so wie man jemanden auf der Straße grüßt, den man nicht kennt? Oder hatte er gar dabei gelächelt? Ignatius schätzte das Lächeln nicht. Sandro hätte am liebsten ein zweites Mal genickt, dann mit überzeugender Ehrfurcht, aber wer nickte schon zweimal? Das sähe merkwürdig aus.
Sandro wandte sich also mit gefalteten Händen der unsäglichen Lesung zu, die zu seinem Verdruss nun auch noch an allen Ecken und Enden stockte. Der vorlesende Schüler hatte zunehmend Schwierigkeiten, einen Satz ohne Fehler zu Ende zu bringen, und vor dem nächsten Satz zögerte er stets, so als gelte es, aus einem behaglichen Haus in eine finstere
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