Der Schweizversteher
Kanton
allerdings Mostindien , eine Zusammensetzung aus
Apfelmost und dem kolonialen Indien, dem er der Gestalt nach ähnelt.
Die groÃe Frage ist, was für ein Apfel eigentlich auf
Walterlis Kopf saÃ, als Tell senior ihn herunterschoss. Heute könnte es gut ein
Granny Smith aus Neuseeland sein, denn trotz der vielen einheimischen Ãpfel
sieht man auch diese Sorte in Schweizer Geschäften. Seltsam.
Aber abgesehen von Ãpfeln vom anderen Ende der Welt,
sind Schweizer Supermärkte stark auf Saisonware ausgerichtet. Der Wechsel der
Jahreszeiten schlägt sich deutlich in den Obst- und Gemüseregalen nieder, und
immer werden vorwiegend heimische Produkte angeboten. Zwetschgen, Kirschen,
Spargel, Erdbeeren und Salat findet man dann im Regal, wenn sie in der Schweiz
geerntet werden. Das gilt insbesondere für Salat, der zu den wenigen Dingen zählt,
bei denen das regional erzeugte Produkt billiger als Importware ist und von dem
es im Hochsommer zwanzig verschiedene Sorten gibt. Was daran liegt, dass die
Schweizer eine Schwäche für guten Salat haben.
Salat ist nicht gleich Salat
In vielen Schweizer Restaurants wird ein Menü
angeboten, oft als Mittagsmenü, das aus drei Gängen besteht und täglich
wechselt. Und in neun von zehn Fällen ist der erste Gang ein Salat. In einer
schlichten Wirtschaft â ja, auch davon gibt es ein paar in der Schweiz â kommt
vermutlich eine kleine Schüssel mit zerschreddertem Blattsalat, einem
Tomatenviertel, ein paar geraspelten Karotten und Fertigdressing auf den Tisch.
In besseren Lokalen handelt es sich um gemischten Blattsalat, geröstete Kerne
und selbst gemachte Salatsauce, aber der Grundgedanke ist derselbe: einfache
Zusammenstellung, schnell auf dem Tisch.
Auch zu Hause mögen die Schweizer als Vorspeise nichts
lieber als einen kleinen Salat. Das ist schon mehr als ein nationaler
Essensfetisch, es ist ein kulturelles Merkmal. Und so ist der Salat in der
Schweiz nicht nur der vorhersehbare erste Gang, sondern Quelle endloser
Faszination am Essenstisch. Dabei geht es letztlich nur um besseres
Hasenfutter. Wer hätte gedacht, dass ein bescheidenes Salatblatt solche Dispute
entfesseln könnte! Mehr als einmal habe ich während einer dieser
Grünzeugdebatten zum Messer gegriffen und sie brachial beendet â indem ich die
Blätter zerschnitt.
Von den preiswerten Menüsalaten abgesehen, werden
Schweizer Salate mit ganzen Blättern serviert. Sie werden nicht vorher
auseinandergerissen oder -geschnitten, meist nicht einmal halbiert. GroÃe, fast
runde Blätter liegen mit Dressing begossen da, ästhetisch natürlich weit
ansprechender als zerschnipselter grüner Mischmasch. Doch kaum beginnt man zu
essen, ist die Ãsthetik sofort perdu, auch wenn man sich beim Kampf mit den
widerspenstigen glitschigen Blättern um einigermaÃen schickliches Benehmen
bemüht. Nach eingehender Beobachtung stelle ich fest, dass es beim Verzehr
eines Schweizer Salats eine unumstöÃliche Blätteretikette gibt, sagen wir ruhig
eine Blättikette. Man hat drei verschiedene Möglichkeiten â die elegante, die
übliche und die praktikable Variante. Nach Schweizer MaÃstäben in dieser
Reihenfolge.
Korrekt ausgeführt, ist der elegante Verzehr ein
wahrer Augenschmaus. Zunächst spieÃt man ein einzelnes Blatt mit seiner Gabel
auf. Dann faltet man mithilfe des Messers jede Seite des Blatts zur Mitte hin,
wobei man jedes Mal erneut mit der Gabel durch die Mitte sticht, damit sich das
Ganze nicht unversehens wie ein Schachtelteufel wieder entfaltet. Sobald alle
vier Seiten eingeklappt sind, hat man ein kleines, handliches Päckchen, das man
formvollendet verspeisen kann.
Zweifellos erfordert die Beherrschung dieser Kunst
jahrelange Ãbung. Nicht nur, dass man die bereits gefalteten Seiten unten
halten muss, während man gleichzeitig versucht, die nächste zwischen die
Gabelzinken zu bekommen: Durch das Dressing ist auch alles recht glitschig,
weshalb mir dieses Blatt-Origami einfach nie gelingen will. Was mir nur eine
der beiden anderen Möglichkeiten offenlässt.
Angesichts der Bedeutung von Tischsitten in diesem
Land staunt man, wenn man den Verzehr eines Salatblatts in der Standardvariante
sieht. Dabei sticht man nämlich einfach mit der Gabel in die Mitte eines
Blattes, schüttelt das überflüssige Dressing ab und stopft es sich im Ganzen in
den Mund. Ja, einfach so.
Weitere Kostenlose Bücher