Der Schweizversteher
historischen
Ereignisse zu durchleben. Stattdessen vergegenwärtige ich mir, auf wie vielen
Leuten ich dahinwandle.
Mit SchuhgröÃe 42 sind meine FüÃe je 26
Zentimeter lang, was 52
Personen entspricht, auf die ich bei jedem Schritt trete. Ich fühle mich wie
ein Riese, vor allem wenn ich bedenke, dass ich, würde ich mich längs auf den
Weg legen â was recht seltsam wäre â, auf 366 Menschen läge. Für die
schlechten Mathematiker unter Ihnen: Ich bin 1,83 Meter groÃ. Ich könnte
nun verschiedene Körperteile auf Fünf-Millimeter-Menschen umrechnen, will mich
aber mit einem Beispiel begnügen. Allein unter meinem Daumen könnte ich sechs
Personen begraben, eine für mich bisher ungeahnte Machtfülle. Diese Wanderung
stärkt das Selbstbewusstsein. Vielleicht ist das die geheime Bedeutung dieses
Weges. Es geht weder um Jahrestage noch um Präzision, sondern einfach darum,
sich in einer groÃen Welt nicht klein zu fühlen. Sehr passend für die Schweiz.
Vielleicht geht es aber auch nur um die schöne Landschaft, die von hier aus
atemberaubende Ausblicke auf den blendend türkisblauen See und die schroffen
Berge bietet. Typisch, dass Zürich den reizvollsten Teil des Weges ergattert
hat. Nicht, dass er irgendwo nicht schön wäre, die Strecken durch den Wald verströmen
schlieÃlich Ruhe und Naturnähe. Und weil es ein Werktag im Frühsommer ist, sind
auch nicht viele Wanderer unterwegs, nur hin und wieder wird man mit einem
Nicken und einem Grüezi gegrüÃt. An einem
Sommerwochenende dürfte es hier allerdings zugehen wie am Münchner Stachus,
denn die Schweizer gehen nun mal liebend gern spazieren.
Stiefel sind zum Wandern da
Spazierengehen und Wandern sind die groÃe Leidenschaft
der Schweizer. Sobald sie die ersten Schritte gemacht haben, werden sie zum
Wanderausflug mitgenommen. Nicht selten sieht man eine Schar Wanderlustiger
jenseits der Achtzig aufbrechen, und die einzigen Stöcke weit und breit sind
diese sportlichen Dinger, die man in Steillagen benötigt. In niedrigen Lagen
wandert man sommers wie winters, nur wer nach Höherem strebt, muss den Frühling
abwarten, es sei denn, er schnallt sich Schneeschuhe an. Sobald das Tauwetter
einsetzt und sich die Schneegrenze langsam nach oben schiebt, folgen ihr die
Wanderer dicht auf den Fersen. In der Hochsaison von Juni bis September sind
die beliebten Pfade belebter als die Oxford Street in der Vorweihnachtszeit.
Und auch in den Zügen geht es zu; wer an einem sonnigen Sonntag im Juli den
Sieben-Uhr-Zug nach Interlaken besteigt, ergattert höchstens einen Stehplatz,
und die anderen Reisenden sind garantiert mit Wanderstiefeln und -stöcken
ausgerüstet.
Mir tun schon die müden Knochen weh, wenn ich sie alle
im sportlichen Outfit sehe, aber für die Gebirgsdörfer ist das eine prima
Sache, denn sie haben zweimal die Chance abzusahnen: erst bei den Skifahrern,
dann bei den Wanderern, die den Winterurlaubern zahlenmäÃig nicht nachstehen.
Den Sportgeschäften gefällt das auch. Dass der Winter vorbei ist, merkt man
spätestens, wenn in ihren Auslagen die klobigen Skischuhe den robusten Wanderstiefeln
weichen und die dicken aufgeblähten Jacken den leichten Hightechmodellen.
Die Wanderlust ist in der Schweiz ein bedeutender
Wirtschaftsfaktor. Wichtiger noch, die Wandervögel haben 63 504 Kilometer Wanderwege
zur Verfügung (oder sentiers , falls Sie in
französischsprachigen Kantonen unterwegs sind, obgleich deren Bewohner längst
nicht so gern wandern wie die Deutschschweizer). Dieses Wegenetz ist fast so
lang wie das der NationalstraÃen und mit den kleinen gelben Wegweisern, die die
Entfernung zu verschiedenen Zielorten angeben, genauso gut beschildert. Diese
sind unterwegs zum Gipfel (oder ins Tal) sehr hilfreich, vor allem wegen ihrer
korrekten Angaben, und man findet sie wirklich überall in der Schweiz: in
Stadtzentren, auf windgepeitschten Bergeshöhen, im winzigsten Weiler und auf
zahlreichen Holzwegen. Selbstverständlich sind per pedes auch dem Auto
unzugängliche Orte zu erreichen â nämlich die Berge. Knapp ein Drittel der
Schweizer FuÃwege sind als Bergwanderwege ausgezeichnet, und das heiÃt, sie
sind mühseliger und führen höher hinauf.
Fitnessfreaks und Sonntagsspaziergänger,
Tagesausflügler und Wanderurlauber, Einheimische und Touristen. Sie alle
bevölkern im Sommer
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