Der Schwimmer: Roman (German Edition)
seid, könnt ihr es sogar hören, fuhr mein Vater fort, und dann standen wir vor der Bahnhofshalle, blieben still und taten so, als hörten wir das Wasser.
Wir liefen durch leere Straßen, die kaum beleuchtet waren, vorbei an Häusern und Gärten, die im Dunkeln lagen, vorbei an hohen Pappeln, die ein wenig rauschten, wenn der Wind in ihre Blätter fuhr. Obwohl es fast Nacht war, kam uns hin und wieder jemand auf einem Fahrrad entgegen, jemand in leichten Hosen, mit einem Hemd, das nicht bis oben zugeknöpft war, mit Schuhen, in die man hineinschlüpfen konnte, die man nicht zu binden brauchte. Es war, als gebe es hier keine Grenze zwischen Tag und Nacht, als sei keine Zeit bestimmt, in der das eine für das andere aussetzen mußte, um Stunden später wieder anzufangen. Niemand schien sich hier darum zu kümmern.
Mein Vater sprach von Schiffen und Segelbooten, von Weinhängen und Stränden und vom flachen Wasser des Sees, durch den man fast laufen könne, von einem Ufer zum anderen. Er setzte die Koffer ab, sprang vom Gehweg auf die Straße, lief ein paar Schritte, breitete seine Arme so aus, als müsse er auf einer Linie balancieren, und trat auf der anderen Seite wieder auf den Bürgersteig. So, sagte er, einfach so von Seite zu Seite, schaute zurück zu Isti und mir, und wir wunderten uns, daß unser Vater die Koffer abstellte und wie ein Seiltänzer die Straße überquerte.
Als Junge bin ich oft hier gewesen, dort oben, irgendwo hinter diesen Bäumen, sagte er und zeigte in die Dunkelheit. Isti und ich kannten den See nur von Postkarten, die unsere Mutter ins Kredenzfenster vor die Gläser gesteckt hatte. Jemand winkte von der Terrasse eines Lokals, vom Deck eines Dampfers oder schaute durch einen dieser großen Reifen, die sie ins Wasser warfen, um darin auf den Wellen zu treiben. Hin und wieder verbrachte jemand, den wir kannten, etwas Zeit hier am See. Vielleicht eine Woche im Sommer, bei Verwandten, oder ein Wochenende im Frühling, bei Freunden. Selbst im Herbst fuhr man an den See, nicht mehr, um zu baden, sondern nur noch, um aufs Wasser zu schauen. Auf den Karten stand immer das gleiche. Liebende Küsse: Márta und Familie. Liebende Küsse: Hajni und Familie. Liebende Küsse: Viki und Familie.
Wir übernachteten in einem Haus, das kleiner aussah als die Häuser ringsum. Unter dem Dachvorsprung hatten wir den Schwan entdeckt. Vom Gartentor aus rief mein Vater nach dem Wirt, der kurz darauf in der Tür erschien. Die beiden handelten den Preis aus, der Wirt öffnete uns die Pforte, wir liefen über einen schmalen Weg, aus dem Steine gebrochen waren, und kletterten eine enge Stiege hoch, bis unters Dach. Aus den Wänden hingen Drähte, das Porzellan der Lichtschalter hatte Risse. Nein, Licht gebe es keins, sagte der Wirt, kurzerhand sei der Strom ausgefallen. Vielleicht morgen wieder. Ja, morgen früh bestimmt wieder. Aber wozu Strom, wenn es am Morgen wieder hell sei?, fragte er. Er lachte, und es war ihm gleich, ob wir mit ihm lachten, er öffnete die Tür zu unserem Zimmer, steckte eine Kerze in einen Halter und zündete sie an. Das flackernde Licht zeigte zwei Betten, eine Liege und Bettwäsche, die aussah, als habe sie an den Enden ein Tier zerbissen. Der Wirt goß Wasser aus einem Krug in eine Schüssel und legte ein Stück Seife daneben, das schon benutzt worden war. Als er ging, versuchte er mehrmals, die Zimmertür zu schließen, die sich jedesmal wie zum Trotz wieder öffnete und in der Wand hinter uns ein großes schwarzes Loch ließ.
Mein Vater stellte sich ans Fenster und rauchte, stieß den Qualm gegen die Scheibe und sah dabei aus, als suche er immer noch nach dem Haus, in dem er sehr viel früher, in einer Zeit, von der Isti und ich nichts wußten, hin und wieder einen Sommer verbracht hatte. Der Blick aus unserem Zimmer fiel auf die Verladeplätze des Bahnhofs, auf seine rostroten Waggons, wenige hundert Meter entfernt von der Halle, durch die wir gelaufen waren. Vom frühen Morgen an kamen Züge und fuhren wieder ab. Wenn ich die Augen öffnete, sah ich Istis Gesicht, seine fast durchsichtige Haut und die schnell pochenden Adern darunter. Wenn ich meine Fingerspitzen an seine Schläfen legte, wußte ich einen Augenblick lang nicht, ob es meine Finger waren oder seine Schläfen, die vibrierten. Isti sprach im Schlaf. Er redete nicht mehr mit Kovács, jedenfalls sprach er nicht so, daß ich ihn hätte verstehen können. Isti redete in seiner eigenen Sprache, die nur er verstand und
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