Der Schwimmer: Roman (German Edition)
Klavier, hob den Deckel und sagte, wie eine Zahnlücke sieht es aus. Zsófi hatte gehört, als Vali damals gegangen war, habe ihr Vater am Fenster gestanden und ihr nachgeschaut. Er habe gewußt, sie würde nicht zurückkommen, und ihr so lange nachgesehen, bis sie an der Kreuzung stehengeblieben war, einen Augenblick lang gewartet hatte und dann abgebogen war, und dieses Bild, wie Vali die leere Straße hinabgelaufen war, in ihrem langen Mantel, ganz auf der rechten Seite, dicht an den Bäumen, obwohl ihr niemand entgegenkam, dieses Bild sei so anders gewesen, auch wenn Vali so gelaufen sei wie immer, und jetzt fragte Zsófi, warum sie kein letztes Bild von Jenő habe, an das sie jederzeit denken könne, warum nicht? Sie könne nur noch beten für Jenő, und ja, sie bete für ihn, auch wir sollten für ihn beten, hier, vor seinem Foto, sagte Zsófi, wer weiß, wo er jetzt sei, auf welchem Weg, bei welchem Wetter, in welcher Stadt. In Wien habe Jenő eine Anschrift, fuhr Zsófi fort, auch zu Kata könne er, vielleicht habe er das vor, Gott gebe, daß er das vorhabe, Gott gebe es.
Zur Polizei habe man sie bestellt, erklärte Zsófi, und nichts habe sie sagen können. Was hätte sie sagen sollen, außer daß Jenő weg war? Man kann ihnen nichts sagen, und trotzdem bestellen sie einen, wiederholte sie, wie dich, Kálmán. Isti und ich, wir wußten nichts davon, daß unser Vater bestellt worden war, um zu reden, um zu erzählen, wie alles gekommen war und warum, und Zsófi sprach jetzt so darüber, als dürfe man darüber sprechen, als habe unser Vater nichts dagegen, als dürften es plötzlich alle hören, selbst wir, Isti und ich, daß er vor Jahren hatte erklären müssen, wo unsere Mutter war und warum, daß sie ihn wieder und wieder bestellt hatten, weil sie wissen wollten, warum unsere Mutter allein und er nicht mit ihr gegangen war, und weil sie davon überzeugt waren, er würde ihr folgen, wir alle, mein Vater, Isti und ich, würden ihr folgen, bald schon.
Unser Vater stellte sein Glas ab, stand auf, um zu Pista in die Gartenlaube zu gehen, und Zsófi sagte, geh nur, solange Karcsi nicht da ist, und unser Vater sah sie an, als wolle er fragen, was kümmert mich Karcsi. Zu uns sagte Zsófi, niemals habe Kálmán über diese Dinge nachgedacht, auch Pista nicht, selbst sie nicht, Zsófi, niemand hätte über diese Dinge nachgedacht, nicht bevor man auf Wachen bestellt wurde, um zu erklären, wer wo war, ganz gleich, ob man etwas wußte oder nicht. Bevor unsere Mutter gegangen war, hatten sie noch anders darüber gedacht, sagte Zsófi, noch 1953, als es mich schon gab, nach den ersten Wochen des Jahres, als der Winter kaum vorbei war und Zsófi und Kálmán sich an einem kalten, hellen Tag in Budapest getroffen hatten, weil sie beide dort zu tun hatten. Sie waren durch die Stadt gelaufen und irgendwann stehengeblieben, weil man stehenzubleiben hatte in dieser Minute, weil alles und jeder stehenblieb, Bahnen, Busse, Menschen, zu Fuß, auf Fahrrädern, weil es so bestimmt worden war, über Lautsprecher oder Sirenen. Jeder stand und schwieg, nicht nur hier, sondern im ganzen Land, selbst in den Ländern ringsum, im Norden, Osten und Süden, in Fabriken, auf Straßen, in der Stadt, auf dem Land, und dann hatten auch sie gestanden und geschwiegen, Zsófi und Kálmán, wie alle anderen. Etwas war zu Ende gegangen, ein Leben war vorbei und mit ihm eine Zeit, eine Zeitrechnung, und Zsófi und unser Vater hatten etwas gespürt, etwas, das der Trauer ähnlich war, das fast Trauer gewesen war, und erst später, Jahre später, als sie schon mehr wußten, als alle schon mehr wußten, hatten sie sich dafür geschämt, daß sie so etwas hatten empfinden können.
Zsófi schaute beim Reden auf die Kerzen vor Jenős Bild, als wolle sie all das Jenő erzählen und nicht uns. Sie sagte, hier habe sie Schmerzen, und legte eine Hand auf die Brust über ihrem Bauch, der dort saß wie eine Kugel, und hier ein lautes Pochen, sagte Zsófi, und legte eine Hand auf die Stirn. Anna sagte, Zsófi, du mußt schlafen, leg dich hin, Kata und ich, wir werden aufpassen, daß die Flammen nicht ausgehen, aber Zsófi schüttelte den Kopf, sie könne keinen Schlaf finden, erwiderte sie, es sei nicht nur wegen der Kerzen. Wenn sie sich aufs Bett lege und die Augen schließe, sehe sie immer nur Jenő, Jenő wie er rennt, atmet, stolpert und fällt, und sie denke nach über ihn, sie könne nicht mehr aufhören, über ihn nachzudenken, und dann sagte
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