Der Schwur
das Gleichgewicht und stolperte. Das alte Wesen hob rasch die Hand und griff nach ihrer Schulter, um sie zu stützen, und als es sie berührte, geschah etwas Sonderbares. Sonja wurde es plötzlich schwindlig, beinahe so, wie wenn Nachtfrost sie auf magische Weise auf seinen Rücken holte. Einen Moment lang sah sie nicht das hutzelige alte Männchen, sondern ein komisches, verängstigt wirkendes Geschöpf mit glatter Haut, strähnigen braunen Haaren und einer blauen Jacke. Sie sah sich selbst durch die Augen des hässlichen Männchens! Und nicht nur das – alle Angehörigen des Kleinen Volkes um sie herum hatten plötzlich Namen und waren deutlich voneinander zu unterscheiden. Der hässliche kleine Mann, in dessen Kopf sie steckte, war Eok, der Anführer des Clans, und da war Uro mit dem zu kurzen Bein, da war Senja, die Kräuterfrau, da waren Avul und Durko und Murin, alle mit ihren Geschichten, ihren Hoffnungen und ihrer Angst vor den menschlichen Soldaten, die erst zwei Nächte zuvor drei Hütten niedergebrannt hatten, und sie teilte und verstand ihre Angst und wollte sie beschützen … und dann war sie plötzlich wieder sie selbst.
Die Hand ließ sie los, sie stolperte zurück und krallte sich Hilfe suchend in Nachtfrosts Mähne. Entsetzt starrte sie das uralte Wesen an. Eok. Das war Eok, Clanführer seit sechsundvierzig Jahren. Warum wusste sie das?
»Was war das?«, flüsterte sie.
Eok sah genauso verwirrt aus, wie sie sich fühlte. Er ließ die Hand sinken und schüttelte den Kopf, als müsste er seine Gedanken wie Schneegestöber aufwirbeln und wieder zur Ruhe kommen lassen. Dann drehte er sich zu seinen Leuten um.
»Dieses Menschenkind«, sagte er mit seiner quäkenden Stimme, »ist ein Seelentauscher.«
Völlige Stille trat ein. Alle starrten Sonja an und sie hätte sich am liebsten hinter dem silbernen Vorhang von Nachtfrosts Mähne versteckt. Sie verstand überhaupt nicht mehr, was nun los war. Das Einhorn wandte den Kopf zu ihr und pustete ihr liebevoll ins Haar.
Hab keine Angst , hörte sie. So hast du auch mich erkannt.
Und da erst erinnerte sie sich an den Moment reiner Magie, in dem sie Nachtfrost zum ersten Mal wirklich gesehen hatte. Und sie hatte genau gewusst, was er war, obwohl sie nur seine graue Tarngestalt gesehen hatte.
Aber die Magie war doch von Nachtfrost ausgegangen! … »Seelentauscher«? Was sollte das sein?
Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Eok kam auf sie zu, und aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er ihr niemals etwas antun würde; trotzdem schrak sie zurück, als er nach ihrer Hand fasste und sie mit schadhaften Zähnen anlächelte. »Komm ans Feuer, Menschenkind.«
Diesmal passierte nichts, als er ihre Hand nahm. Trotzdem war es Sonja mulmig zumute, als sie an den kleinen Leuten vorbeiging, die sie stumm anstarrten. In den faltigen Gesichtern las sie … ja, was? Neugier? Verwirrung? Oder Furcht? Sie wusste es selbst nicht. Sie blickte sich nach Nachtfrost um, der die Nase in den Schnee steckte und in aller Ruhe nach Gras zu suchen begann.
Eok führte sie zum Feuer. Dort standen einige Sitzbänke im Kreis. »Setz dich«, sagte er. Dankbar hockte Sonja sich hin und hielt ihre Hände dem Feuer entgegen. Sie hatte gar nicht gewusst, wie unglaublich durchgefroren und müde sie war. Und Hunger hatte sie auch …
Als hätten die Leute ihre Gedanken gelesen, kam eins derfaltigen Geschöpfe zu ihr und hielt ihr einen Holznapf mit Eintopf hin. Einen Löffel gab es dazu allerdings nicht. Ratlos schaute Sonja sich um und begegnete Eoks Blick, der sie wohlwollend anstrahlte. Da setzte sie den Napf kurzerhand an den Mund. Es schmeckte nach Fleisch, Gemüse und Kräutern. Salz war offenbar vergessen worden, aber Sonja traute sich nicht so recht, danach zu fragen. Eigentlich war das auch egal; jedenfalls schmeckte es gut, und sie trank den Napf leer. Eok wartete geduldig, bis sie den Napf neben sich auf die Bank stellte und sich mutig genug fühlte, um ihre Frage zu stellen. »Was ist ein Seelentauscher?«
»Das ist jemand, der andere mit seiner Seele berührt«, sagte Eok. »Du hast mich berührt. Du weißt jetzt, wer ich bin. Ich weiß, wer du bist. Ich danke dir dafür.«
»Aber ich habe doch gar nichts gemacht! Ist das … ist das Magie?«
Verständnislos schaute Eok sie an. »Natürlich ist es Magie. Es ist ein Geschenk der Göttin. Nimm es an, Menschenkind, es ist eine seltene Gabe.«
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, murmelte Sonja, traute sich aber
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