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Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Titel: Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Lärm, welcher von Zeit zu Zeit aus dem Walde drang. Das wurde aber anders. Je näher der Mittag kam, desto stiller wurde es, und als die Sonne den Scheitelpunkt beinahe erreicht hatte, herrschte tiefste Ruhe ringsumher.
    Auch wir konnten die Glut nicht länger ertragen und strebten dem Ufer zu, als wir eine Stelle bemerkten, wo das Gebüsch nicht sehr dicht war und wir also landen konnten. Wir banden das Boot an und wateten durch den tiefen Schlamm, bis wir festen Boden unter uns hatten. Dann aber war die Vegetation so undurchdringlich, daß wir uns mit den Messern Platz verschaffen mußten.
    War das eine Pflanzenpracht und Pflanzenherrlichkeit! Wir befanden uns unter Timichopalmen, deren Wedel in blaßrosener Färbung prangten. Hoch darüber breitete der Riese des Urwaldes, ein kolossaler Ceiba, sein schirmartiges Laubdach aus. Baumartige Farren, wunderbar gefiedert, strebten vergeblich zu ihm empor. Und hoch oben in den Wipfeln des Ceiba kletterten Lianen, bald wie Schnüre herabhängend oder wie Seile von einem Aste zum andern gespannt, auf denen Affen, die Seiltänzer des Waldes, ihre Künste ausübten, ohne sich durch uns stören zu lassen.
    Hie und da stiegen die Lianen wie Stangen senkrecht oder wie Seile um einander gedreht in den seltsamsten Verschlingungen zur Erde herab, und an ihnen rankte sich ein Dickicht von Passifloren bis zur Krone des Ceiba empor, mit Millionen und Abermillionen von roten, blauen und violetten Passionsblumen besetzt.
    Ich war ganz Staunen über diese geradezu unbeschreibliche Herrlichkeit. So eine unendliche Fülle von Blüten wollte mir fast unbegreiflich erscheinen. Das war ja ein förmliches Blumenfeuer, eine Blütenflamme, welche bis zum Himmel zu reichen schien! Ich winziger Erdenwurm stand vor und unter ihr wie Moses, als die Stimme des Herrn aus dem brennenden Busche ertönte:
    »Moses, zieh’ Deine Schuhe aus, denn der Ort, auf welchem Du stehst, ist ein heiliges Land.«
    Es war nicht das Gigantische dieses Passiflorendickichts, nicht die wunderbare Farbenpracht allein, welche diese Wirkung auf mich hervorbrachte, sondern auch der Umstand, daß wir uns jetzt in der Passionszeit befanden. Die Passiflorenblüte schließt ja die Insignien des Leidens unseres Herrn und Heilandes ein.
    Der Schlaf war infolge der großen Hitze ein fast unabweisbares Bedürfnis für uns, aber beim Anblicke dieses blühenden Wunderwerkes der Allmacht Gottes war es mir unmöglich, die Augen zu schließen. Die Gefährten warfen sich hin, hüllten Gesicht und Hände gegen die Mosquitos ein und waren bald in tiefen Schlaf gefallen. Ich saß still da, ohne auf die Stechfliegen zu achten, und dachte an das ferne Zion, die Burg des Heiles, an Gethsemane, an die Kreuzesstätte, an das Felsengrab und an den Osterjubelruf: »Er ist wahrhaftig auferstanden und nicht mehr hier!«
    Da hatte sich ein Krokodil an das Ufer gemacht und schob sich in der Lücke, welche wir durch das Gebüsch gehauen hatten, auf uns zu. Als es uns erblickte, hielt es an. Es schien, als ob es überlege, ob es fliehen oder angreifen solle. Wahrscheinlich entschloß es sich für das letztere, denn es setzte nach einer kurzen Pause seinen Weg fort. Ich griff nach der Bärenbüchse und gab ihm eine Kugel in das Auge. Es brüllte, warf sich herüber und hinüber, wälzte sich, bis es auf den Rücken zu liegen kam und war dann tot. Es war ein schwarzer Kaiman von dreizehn Fuß Länge.
    Der Schuß hatte meine Gefährten natürlich aufgeweckt. Es fiel ihnen nicht ein, über die tote Bestie zu erschrecken, denn am Lande sind diese Tiere nicht gefährlich; aber von einem Wiedereinschlafen war doch nun keine Rede mehr. Perdido stand auf und entfernte sich, indem er mit Hilfe seines Messers in das Dickicht eindrang. Er pflegte unser Lager oft ohne einen sichtbaren Grund zu verlassen; man hörte ihn dann in der Ferne laut mit sich sprechen, und wenn er zurückkehrte, war er innerlich erregt, äußerlich aber stiller und finsterer als vorher.
     

    »Pah!« antwortete ich, indem ich den Revolver zog. »Ehe Sie den Arm erhoben, haben Sie zwei, drei Kugeln von mir! …«
     
    Als er fort war, führte ich die Gedanken, welche mich vorher bewegt hatten im Gespräche mit den Tobas weiter und brach schließlich einige Passionsblumen ab, um ihnen die Bedeutung der einzelnen Teile zu erklären. Dabei bemerkte ich Perdido. Er war zurückgekehrt und steckte nahe bei uns im Gesträuch, um mir heimlich zuzuhören. Der Ausdruck seiner Augen war dabei ein ganz

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