Der Seelenbrecher
Eingangsbereich. Erst beim zweiten Hilferuf erkannte Caspar die Stimme der jungen Krankenschwester. Yasmin rannte durch die Eingangshalle direkt auf sie zu.
»Was ist denn?«, fragte Bachmann erschrocken. Im gedimmten Licht der Deckenfluter wirkte Yasmin wegen ihres rotgefärbten Ponys, als wäre ihre Stirn in Blut getaucht.
»Der Professor«, keuchte sie atemlos. »Raßfeld ist weg.«
»Weg?«
»Ja. Die Stöpsel waren aus, und Raßfeld hat mich losgeschickt, um neue aus dem Lager zu holen.«
Sie öffnete ihre rechte Hand und zeigte ihnen zwei gelbe Schaumstoffpfropfen, die offensichtlich dafür gedacht waren, Sophias Ohren vor dem Lärm der Kernspinuntersuchung zu schützen.
»Als ich zurückkam, war er verschwunden.«
»Verdammt.« Bachmann trat einen Schritt zur Seite, bückte sich und riss die mittlere von drei Schreibtischschubladen auf. Etwas, das wie eine zu groß geratene, durchsichtige Spielzeugpistole aussah, erschien in seiner Hand.
»Verdammt«, stöhnte der Hausmeister nochmals, und dann rannte er los.
Caspar folgte ihm, und während sie durch die Eingangshalle hetzten, veränderte sich das Licht um sie herum. Es schien heller zu werden, doch in Wahrheit wurde die Dunkelheit von draußen ausgeschlossen. Die Strahlen der Deckenleuchten wurden plötzlich stärker reflektiert, weil sie auf einen Widerstand trafen, der sich langsam vor die großen Panoramafenster im Eingangsbereich schob. Und vor alle anderen Fenster der Teufelsbergklinik auch.
Das Schott.
Es war gerade zur Hälfte heruntergefahren, als Sophia im Keller zu schreien begann.
00.43 Uhr
Die gequälten, sich panisch überschlagenden Laute waren kaum erträglich. Noch grausamer aber war die Stille, die mitten im Höhepunkt eines Schreis so unvermittelt einsetzte, als hätte jemand Sophias Stimmbänder mit einer Schere zerschnitten.
Sie rannten nach unten. Bachmann voran, Caspar dicht hinter ihm. Seine nackten Füße klatschten auf die wuchtigen Steinstufen, die zu dem ersten Untergeschoss im Souterrain der Villa führten.
»Hallo?« Yasmin war oben stehengeblieben, doch ihr ängstliches Rufen überholte sie und erzeugte ein Echo in dem schmalen Gang, der sich am Fuß der Treppe vor ihnen zu beiden Seiten erstreckte. An seinen jeweiligen Enden wurde der schlauchartige Flur durch die Glastüren zweier Notausgänge begrenzt, hinter denen sich das Schott gerade die letzten Millimeter nach unten fraß. Dann knackte es, die Lamellen fächerten noch einmal in die Gegenrichtung, bis die Jalousien endgültig jeden Blick durch die Scheiben versperrten.
»O nein!« Bachmann deutete auf eine blutige Fußspur am Boden. Sie rannten nach rechts, den Gang hinunter, auf die vorletzte Tür zu, über der ein schwarzgelbes Leuchtschild hing: »Röntgen – Kein Zutritt.«
Bachmanns schwere Arbeiterstiefel knallten gegen die metallbeschlagene Holztür, und er warf sich regelrecht in den Technikraum der Neuroradiologie. Caspar folgte ihm.
»Wo sind sie?«
Raßfeld, Sophia!
Ihre hektischen Blicke trafen sich für einen Moment, als sie sich unabhängig voneinander mit suchenden Augen um ihre eigene Achse drehten. Hier war niemand. Nichts, außer der großen Glasscheibe, in der sich ihre müden Gesichter widerspiegelten. Die Scheibe!
Der Hausmeister ging zur Wand und wischte einmal mit seiner Hand über alle Lichtschalter. Ihre Spiegelbilder verschwanden und gaben die Sicht auf das frei, was hinter dem Glas im Dunkeln gelegen hatte.
Die Beine. Die rotierenden Füße.
»Ist sie das?«, fragte Caspar überflüssigerweise. Sophias schöner Körper zuckte in der Röhre des Kernspintomographen, als stünde sie in unsichtbarem Kontakt mit einer Starkstromleitung.
Caspar folgte dem Hausmeister, der wieder vorgeprescht war.
Sie beide mussten sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden.
Die zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen der Ärztin waren auf einem beweglichen Trageschlitten fixiert. Bachmann zog Sophia aus der Röhre und sah, dass sich infolge der spastischen Zuckungen bereits ein Armband gelockert hatte. Jetzt wollte er auch die Klettverschlüsse lösen, mit denen Raßfeld für die Untersuchung die Manschetten an den Beinen befestigt hatte. Doch nachdem ihr linker Fuß befreit war, schlug dieser noch unkontrollierter aus. So wild, dass Caspar den Lufthauch zu spüren glaubte. Gleichzeitig begann sie zu wimmern, und ein Geruch alter Kupfermünzen lag in der Luft. Caspar ahnte, was er als Nächstes sehen würde, wenn er nach unten blickte. Seine Vermutungen bestätigten
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