Der Seelenbrecher
ihm zum ersten Mal vor wenigen Minuten hier in der Pathologie eingefallen war: Haberland.
Das war wohl ein weiteres Puzzlestück seiner Vergangenheit, das Raßfeld und Sophia ihm erst nach und nach hatten reichen wollen und sicherlich nicht unter den Bedingungen, unter denen Tom es gerade tat. Der Sanitäter drehte das Kuvert um, und die Initialen des Absenders sahen aus wie eine Anklage: J. B.
Jonathan Bruck.
Caspar fragte sich, wie es sein konnte, dass der Inhalt des Briefes stärker zerstört war als seine Hülle.
»Ich finde, dein Kumpel hat sich mit der Wortwahl echt große Mühe gegeben. Zumindest, soweit man es noch entziffern kann.« Schadeck verfiel in einen theatralischen Tonfall, indem er die durch das Feuer unleserlich gewordenen Absätze und Satzteile durch dramatische Pausen ersetzte.
»Lieber Kollege, … … ein tragischer Zwischenfall, an dem Sie nach meinen Erkenntnissen jedoch keine Schuld trifft, denn … An dieser Stelle war ein ganzer Abschnitt herausgerissen.
… darum sollten Sie sich an den Plan halten, den wir besprochen haben. Gehen Sie besser noch vor Weihnachten in die Teufelsbergklinik … und … Schadeck steckte das Blatt in die Patientenakte zurück und gab Caspar mit dem Papphefter eine Ohrfeige, die seinen Kopf nach rechts schnellen ließ.
»›Lieber Kollege‹? ›Unser Plan‹? Was hat das zu bedeuten, hä? Was hat das hier in deiner Akte zu suchen?« »Ich weiß es nicht.«
»Hör endlich auf mit dem Spiel, Caspar, oder Mr. N. H., oder wie immer ich dich nennen soll.«
Schadeck schlug noch einmal zu. Diesmal ließ er die scharfe Kante des Ordners direkt auf Caspars Stirn sausen.
»Fakt ist: Du kennst den Seelenbrecher. Du hast ihn schon einmal gesehen. Und er hat dich hierherbestellt. Als seinen Kollegen .«
»Nein.«
»Na schön …, dann eben anders …«
Tom trat wütend gegen einen fahrbaren Instrumententisch, von dem mehrere Gegenstände klirrend zu Boden fielen. Er bückte sich und tauchte mit einer grobzackigen Knochensäge wieder auf.
»Dann muss ich die Wahrheit eben anders aus dir herausholen.«
03.01 Uhr
Das Schlimmste an der ganzen Situation war seine Unfähigkeit zum Widerspruch.
Zumindest in einem Punkt hatte Schadeck vollkommen recht und ihm soeben sogar einen ersten unwiderlegbaren Beweis geliefert: Er kannte Bruck. Er war mit dem Seelenbrecher mindestens ebenso vertraut wie mit dem zweiten Opfer, der Grundschul lehrerin seiner Tochter. Katja Adesi. Er wusste, beide Personen hatte er früher schon einmal gesehen. Damals, in seinem wahren Leben, an das er sich immer noch nur in Fetzen erinnern konnte. Doch wenn es wirklich einen Plan geben sollte, der sie alle an Heiligabend hier in dieser Psychoklinik zusammengeführt hatte, dann musste er von einem Verrückten erdacht worden sein. Womöglich von ihm selbst.
Was habe ich nur getan?
Caspar sah die einzelnen Mosaiksteinchen vor sich, ahnte anhand der Ränder und Schattierungen, wie sie zusammenpassen könnten, aber das Gesamtbild erschloss sich ihm trotzdem nicht.
Wie hängt das alles zusammen?
Der Behandlungsfehler, die Unfallfahrt, die ihn für immer gezeichnet hatte.
Und wieso hatte ihn Bachmann leblos im Graben gefunden, wenn er sich doch angeblich bereits Stunden zuvor heimlich in die Klinik schleichen wollte, noch dazu mit seinem Hund?
»Wo sind die anderen?«, fragte er, um etwas Zeit zu gewinnen.
Schadeck war hinter seinen Kopf getreten, was das Grauen nur noch verstärkte, denn jetzt konnte er nicht mehr sehen, was der anscheinend durchgedrehte Sanitäter mit ihm vorhatte. Den Zischgeräuschen nach sprühte er gerade Desinfektionsmittel auf das Sägeblatt.
»Mach dir um die Weiber keine Sorgen, die habe ich in der Bibliothek eingesperrt.«
Es zischte erneut.
»Und Bachmann?«
»Willst du mich schon wieder verarschen? Du bist doch zuletzt bei ihm gewesen.«
Caspars Kopf schnellte ruckartig nach hinten, und er glaubte, jeden Moment skalpiert zu werden, so sehr riss Schadeck an seinen Haaren. Der wutverzerrte Kopf des Pflegers schwebte nur wenige Zentimeter verkehrt herum über ihm. Ein Speichelfaden löste sich aus seinem Mund und drohte ihm direkt ins Auge zu tropfen.
»So, Schluss mit dem Warm-up. Jetzt geht die Show los.«
Das feucht glänzende Sägeblatt wanderte in Caspars Gesichtsfeld. Er musste schlucken und spürte seinen Adamsapfel schmerzhaft von innen gegen seine überdehnte Kehle drücken.
»Halt, nicht. Bitte …« Caspar flehte um sein Leben. Er riss an den Fesseln, streckte seinen
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