Der Seelenbrecher
Rätselkarte in der Hand.« »Scheiße, du meinst …«
»Ja, ja, ja«, brüllte Haberland und sah zu seinem Entsetzen, dass sich die Lippen seines Spiegelbilds in der Fahrstuhlkabine nicht einen Millimeter geöffnet hatten. »Das war der Seelenbrecher. Nein. Die Seelenbrecherin! Sophia Dorn.«
»Wirf mich weg, wenn du mich brauchst. Hol mich zurück, wenn du mich nicht mehr benötigst«, las Morpheus ab.
»Hä?«
»Das ist bestimmt nur ein übler Scherz. Oder ein Trittbrettfahrer.«
»Wieso?«
»Überleg doch mal. Der Seelenbrecher hat es nur auf Frauen abgesehen.«
NEIN , brüllte Haberland und wollte vor Grauen die Augen schließen, doch selbst das gelang ihm nicht. Bitte. Das ist kein Scherz, schrie er in Gedanken. Ihr müsst das Rätsel lösen. Ihr müsst mich hier rausholen. Nicht aus der Klinik, sondern aus mir selbst. Versteht ihr denn nicht?
Nein, natürlich nicht.
Er wusste, er konnte in diesem Augenblick weder sprechen noch schreiben noch lesen. Sie hatte ihm jegliche Fähigkeit zur Kommunikation genommen. Auf dem Messingblatt mit den Etagenknöpfen leuch tete der Knopf für das erste Untergeschoss auf. Gleich würden sie oben ankommen.
Sophia hat das getan. Sie hat mich hypnotisiert und mich zu meinem schlimmsten Trauma zurückgeführt. In das brennende Auto. Hin und wieder erwache ich aus meinem Alptraum, kehre in die Realität zurück. Dann öffnen sich meine Augen, und ihr habt die Chance, den Rapportverlust wieder aufzuheben. Indem ihr das Lösungswort sagt. Begreift ihr nicht? Wenn ihr den Moment verpasst, wandere ich wieder zurück. Dann dreht sich die Spirale des Todesschlafs von vorne. Bitte, ihr müsst mir helfen.
»Hast du eine Idee, was damit gemeint ist?«, fragte Jack. »Wirf mich weg, wenn du mich brauchst. Hol mich zurück, wenn du mich nicht mehr benötigst?«
»Keine Ahnung«, hörte er den anderen Polizisten antworten, doch die Stimme rückte in weite Ferne. Haberland spürte auch nicht mehr, wie sich die Türen im Erdgeschoss öffneten und er von einem Notarzt in Empfang genommen wurde.
Eine unsichtbare Macht hatte schon wieder ihre kalte Hand nach ihm ausgestreckt und begann ihn zurückzuziehen. Zurück zu dem Ort, den er niemals im Leben wieder betreten wollte und den er erst vor wenigen Minuten verlassen hatte: die Flammenhölle seines Unfallwagens.
Er hatte noch versucht, den Polizisten ein Zeichen zu geben, dass sie nach Sophia suchen mussten. Seiner Exfreundin, die er vor fünfzehn Tagen heimlich besucht hatte, um mit ihr ein klärendes Gespräch zu führen. Er wollte sie um Verzeihung bitten und ihr das Gutachten des Arztes geben, bei dem er nach seinem Unfall in Behandlung gewesen war. Laut Dr. Jonathan Brucks sachkundiger Meinung wäre der Schlaganfall Maries auch ohne die Hypnose eingetreten.
Doch Sophia hatte ihm nicht zuhören wollen. Hatte den Brief samt Gutachten in den Kamin geworfen und ihn zu seinem Hund gejagt, den er vor der Klinik angebunden hatte. Er erinnerte sich daran, wie die Leine spannte, weil Tarzan, oder Mr. Ed, wie sie ihn hier alle nannten, Witterung aufnahm, und dann war er gestürzt. Direkt auf die Schläfe.
All das konnte er dem Tross aus Polizisten und Ärzten nicht mitteilen, deren Konturen sich langsam vor seinen Augen auflösten, während er wieder in seinen hypnotischen Alptraum fiel.
Zurück in das brennende Auto. Hinein in das Flammenmeer, das Sophia als ewige Strafe für ihn vorgesehen hatte.
Heute, 14.56 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst
L ydia war zuerst fertig. Ihr Freund brauchte länger und schlug erst zwanzig Minuten später die letzte Seite um.
»Wie jetzt?«, fragte er und sah ungläubig auf die Rückseite des Aktendeckels. »Das war’s? Mehr kommt da nicht?«
Der Professor setzte seine Lesebrille ab und nickte sanft. Die letzten Minuten hatte er die Mienen seiner Studenten aufmerksam verfolgt. Wie sie sich unbewusst hinter dem Ohr kratzten, bevor ihre Augen zum nächsten Absatz sprangen, oder einzelne Worte lautlos mitlasen.
Lydia war auf den letzten Seiten dazu übergegangen, ihre Unterlippe herunterzuziehen, während Patrick den Kopf beim Lesen weiterhin auf beide Hände stützte. Jetzt zeichneten sich rote Flecken auf seinen Wangen ab.
»Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie anfangs nicht konzentriert genug gelesen haben, oder, Patrick?«
»Na ja, wie hätte man denn bitte auf dieses Ende kommen sollen?«
Der Student streckte den Rücken durch und dehnte sich müde.
»Ganz einfach.« Der Professor tippte
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