Der Seelenfänger (German Edition)
neuen Lehrlinge«, half ihm Payton auf die Sprünge.
»Ich dachte, dass sie erst nächste Woche anfangen sollten.«
»Es ist nächste Woche.«
»Habe ich schon wieder ein Wochenende verpasst? Was habe ich bloß die ganze Zeit gemacht?«
»Gearbeitet. Was sonst?«
»Ich weiß gar nicht, weshalb ich das noch frage.« Wolf seufzte. Er blätterte durch die Akten auf Paytons Schreibtisch, zog eine aus der Mitte des Stapels und trat schon den Rückweg in sein Büro an. Offenbar war er drauf und dran, die Existenz der neuen Lehrlinge zu verdrängen.
»Jetzt steht hier nicht so herum«, fuhr Payton die beiden Jugendlichen an und scheuchte sie in Wolfs Büro. »Nun geht schon rein!«
Wolf machte eine überraschte Miene, bedeutete ihnen aber, auf den beiden unbequemen Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann benutzte er seine Krawatte als Brillenputztuch, schlug eine Akte auf und begann in aller Gemütsruhe zu lesen, ohne sich um die beiden Lehrlinge zu kümmern, die wie auf Kohlen saßen und auf Ansprache warteten.
Sascha und Lily schauten sich an. Lily hob die Schultern zum Zeichen, dass auch sie nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte.
Dann warteten sie.
Und warteten.
Sascha traute sich nicht, Wolf beim Lesen zuzuschauen, deshalb betrachtete er sein Büro. Es war nicht viel größer als das Vorzimmer, in dem Payton saß, und es war sogar noch unordentlicher. Jeder Quadratzentimeter ebener Fläche war mit Schriftstücken, Büchern oder Essensresten bedeckt. Die Schriftstücke stapelten sich zu hohen Türmen, manche waren eingestürzt und bildeten nun weiße Ablagerungen auf dem Fußboden. Die Essensreste sahen aus (jedenfalls hätte Saschas Mutter so geurteilt), als wären sie auch in frischem Zustand ungenießbar gewesen. Die meisten Bücher wiederum schienen in der Badewanne gelesen worden zu sein.
Doch das Befremdlichste in Wolfs Büro war ein Haufen schmutziger schwarzer Wolle auf dem Boden gleich neben seinem Schreibtisch. Zuerst hatte Sascha es für einen Hund gehalten. Dann wurde ihm klar, dass es sich um Wolfs Mantel handelte. Der Inquisitor hatte ihn vermutlich bei Arbeitsbeginn, verdreckt, wie er war, einfach auf den Fußboden fallen lassen.
»Und«, fragte Wolf, ohne die Augen von seiner Akte zu heben, »habt ihr beiden auch Namen?«
Wieder schauten sich Sascha und Lily an. Keiner wollte als Erster sprechen.
»Ich bin Lily Astral«, sagte schließlich Lily.
Wolf hob erstaunt die Augen. »Meine Güte, ein Mädchen«, kommentierte er halblaut. »Und dann auch noch Maleficia Astrals Tochter. Was soll ich bloß mit dir machen?«
Lily wurde rot vor Zorn und stammelte etwas wie, sie habe ein Recht auf eine faire Chance, ganz gleich, wessen Tochter sie sei.
»Fair?«, fragte Wolf, immer noch leicht amüsiert. »Mit Verlaub, mein Fräulein, du scheinst eine gänzlich falsche Vorstellung von Wesen und Zweck der Inquisitionsabteilung zu haben. Vom Leben an sich ganz zu schweigen. Ich fürchte, dass schwere Enttäuschungen auf dich zukommen.«
Lilys Gesicht war nun so tiefrot, dass Sascha fast schon Mitleid mit ihr hatte.
Aber dann wandte sich Wolf Sascha zu und sogleich vergaß er Lilys Probleme.
»Und du bist, äh …« Er schielte auf die Akte auf dem Schreibtisch. Wonach er auch suchte, er schien es nicht zu finden.
»Sascha Kessler.«
»Ja, richtig. Kessler.« Wolfs merkwürdig farblose Augen ruhten nun auf Sascha. »Warum kommt mir dieser Name bekannt vor? Hast du vielleicht Verwandte, die schon mal mit der Polizei zu tun hatten? Wundertätige Rabbis, praktizierende Kabbalisten oder revolutionäre Rädelsführer?«
»Oh nein. Nichts dergleichen. Wir sind alle unbeschriebene Blätter!«
Das war Saschas erste Lüge. Er bereute es im Augenblick, da ihm die Worte entschlüpft waren. Und er hätte es noch mehr bereut, wenn er gewusst hätte, wie viele Lügen er noch erzählen würde.
Er hatte das unheimliche Gefühl, dass Wolf wusste, dass er gerade gelogen hatte. Nicht, dass er es gesagt hätte. Wolf gab sich nur ganz mild und machte eine geistesabwesende Miene. In den folgenden Sekunden spürte Sascha ein Jucken auf der Haut. Er musste sich in die Zunge beißen, um nicht die peinliche Stille durch ein Geständnis zu vertreiben.
Als Sascha schon glaubte, die Stille nicht länger auszuhalten, wandte sich Wolf plötzlich erneut an Lily Astral. »Es gibt zwei Sorten Mädchen auf der Welt«, begann er. »Mädchen, die sich gern Verkehrsunfälle anschauen, und Mädchen, die das
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