Der Seelenfänger (German Edition)
die neuen Lehrlinge mitbringe.«
»Wir sollten ihn bei Laune halten«, pflichtete Payton bei.
Wolf verzog das Gesicht, bedeutete aber Sascha und Lily mit einem Kopfnicken, ihre Mäntel zu nehmen und ihm zu folgen. Sie waren alle schon an der Tür, als Payton sie mit erhobenem Arm zum Stillstand brachte.
»Taschen!«, befahl er im Ton eines Schaffners, der die Fahrausweise der Reisenden kontrollieren wollte.
Ohne zu protestieren, leerte Wolf seine Taschen und legte den Inhalt in Paytons Hände.
Jetzt verstand Sascha, warum Wolfs Kleidung immer so ausgebeult aussah. Aus seinen Taschen kamen nacheinander hervor: mehrere angeknabberte Bleistiftstummel, eine Sammlung von Gummibändern, die jedem Zwillenprofi zur Ehre gereicht hätte, und mindestens ein Dutzend Zettel, alle mit einer winzigen, scheinbar akkuraten, tatsächlich aber ganz unleserlichen Handschrift bedeckt. Die Zettel kamen aus allen Gegenden New Yorks und aus allen Milieus. Lotterielose, Quittungen, Theaterprogramme der Bowery, ja sogar eine fettige alte Zeitung, in die offenbar schon einmal ein Fisch eingewickelt worden war.
Payton nahm alle Stücke so feierlich entgegen wie Mose die Gesetzestafeln. Auf dem Weg hinaus schaute sich Sascha noch einmal um und sah, wie Payton das schmierige Zeitungspapier studierte, als ob er darin den Schlüssel zu den Geheimnissen des Universums zu finden erhoffte.
7 Im Haus von J.P. Morgaunt
Sascha und Lily folgten Wolf treppab und durch das Gewimmel der Halle bis hinaus auf den Bürgersteig. Die Inquisitionsabteilung lag gleich an der Ecke zu Hell’s Kitchen, einem Slumviertel mit üblem Ruf, in dem kein Droschkenkutscher halten würde, um einen Fahrgast aufzunehmen. Doch just in diesem Augenblick bog ein schmucker schwarzer Einspänner unter Glöckchenklang um die Ecke und hielt genau vor ihnen, noch ehe Wolf überhaupt die Hand gehoben hatte. Wolf stieg lässig ein, als ob Droschken eigens für ihn wie aus dem Nichts auftauchten, und wenig später fuhren sie schon durch den Central Park.
Als sie sich der East Side von Manhattan näherten, wurde die Gegend zunehmend mondäner. Damen der feinen Gesellschaft gingen unter den hohen alten Ulmen und Kastanienbäumen spazieren. Kindermädchen schoben weidengeflochtene Kinderwagen, aus denen pausbäckige Babys schauten. Statt Droschkengäulen sah man Vollblüter und hier und da glitten auch lange schwarze Automobile wie Haifische durch den Verkehr.
Sascha zwang sich, die Automobile nicht anzustarren; er wollte sich vor Lily nicht lächerlich machen. Doch als die ersten Häuser der Millionaire’s Mile in Sicht kamen, klappte ihm doch unwillkürlich vor Staunen die Kinnlade hinunter.
Ihm war, als wäre er aus New York herausgefallen und in einer Märchenkulisse gelandet. Hier standen römische Villen neben französischen Schlössern und venezianischen Palästen. Und ein Anwesen war größer und stattlicher als das nächste. Die Börsenzauberer und Räuberbarone hatten den Ehrgeiz, sich gegenseitig auszustechen, und sie besaßen das nötige Geld dazu.
Jeder, der die New Yorker Blätter las, wusste aber, dass James Pierpont Morgaunts neuer Stadtpalast der größte von allen sein würde. Der Bau dauerte nun schon Jahre, nicht etwa, weil die Arbeiten langsam vorangingen – wer für Morgaunt arbeitete, durfte sich kein Bummeln erlauben –, sondern weil Morgaunt ständig die Planung änderte, weil die Ausstattung auf den neuesten technischen Stand gebracht werden sollte.
Morgaunt hatte Thomas Edison verpflichtet, um allen erdenklichen modernen Komfort einzubauen. In der Küche standen automatische Herde und Spülmaschinen, Morgaunts Bibliothek verfügte über einen automatisierten Katalog, die Zentralheizung war an einen Apparat mit dem exotisch klingenden Namen Therm-O-Stat angeschlossen und alle Badezimmer waren automatisiert – was immer das auch heißen mochte.
Das Stadtpalais wirkte von außen wie ein mächtiges gotisches Bauwerk und nahm so viel Platz wie ein ganzer Häuserblock ein. Aber kaum waren die Besucher durch das monumentale Eingangstor gefahren, wich die Illusion einer gotischen Burg der Wirklichkeit einer riesigen Baustelle. Die Einzelteile von Edisons »modernster Ausstattung« lagen wie ein auseinandergenommenes Uhrwerk überall verstreut auf dem Platz. Der halbe Innenhof war bedeckt von etwas, das einer riesigen Fahrradkette glich. Ein paar Ingenieure machten sich daran zu schaffen und sahen aus wie Paläontologen, die einen der Dinosaurier
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